Zweiter Weltkrieg aus Soldatensicht

Was wusste Helmut Schmidt von den Verbrechen der Nazis?

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) nimmt am 13.03.2013 in Berlin an einem Empfang beim Bundespräsidenten zu Ehren seines 95. Geburtstages teil.
Sabine Pamperriens Biografie zeigt Widersprüche auf zwischen den Quellen und Schmidts Selbstaussagen. © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Von Sieglinde Geisel · 24.01.2015
Von den Nazi-Verbrechen hat Helmut Schmidt nach eigener Aussage erst nach Kriegsende erfahren. Das bezweifelt Sabine Pamperrien in "Helmut Schmidt und der Scheißkrieg". Auch das Buch von René Freund befasst sich mit dem Krieg aus Sicht eines Soldaten - seines eigenen Vaters.
Die Frage, wie sich Politiker der Bundesrepublik in jungen Jahren unter der NS-Herrschaft verhalten haben, bleibt aktuell, nicht nur als rückblickender Charaktertest, sondern zur Klärung der moralischen Maßstäbe. Wie viel Hellsicht und Courage konnte man erwarten?
Der heute 95-jährige Helmut Schmidt hatte sich 1937 gleich nach dem Abitur zur Wehrmacht gemeldet, an der Front war er nur kurze Zeit, sonst diente er seinem NS-regierten Land vor allem als Ausbilder und Sachbearbeiter.
Vorwurf der Geschichtsklitterung an Schmidt
Er sei kein Nazi gewesen, sondern ein apolitischer Soldat, so die bekannte Version von Helmut Schmidt selbst. Von den Verbrechen der Nazis habe er erst nach Kriegsende erfahren. Seine Generation habe die "Tragödie des Pflichtbewusstseins" erlebt.
In ihrem Buch "Helmut Schmidt und der Scheißkrieg" erhebt die Journalistin Sabine Pamperrien nun den Vorwurf der "Geschichtsklitterung": Anhand neu zugänglicher Quellen – unter anderem Schmidts Wehrmachtsakte – überprüft sie die oft kritiklos akzeptierten Behauptungen von Schmidt zu seiner Vergangenheit.
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Cover: "Helmut Schmidt und der Scheißkrieg" von Sabine Pamperrien© Piper Verlag
Große Enthüllungen hat die umfangreiche Recherche nicht erbracht. Fragen allerdings ergeben sich durchaus aus den Widersprüchen zwischen den Quellen und Schmidts Selbstaussagen.
Hat Helmut Schmidt tatsächlich bereits 1933 von seinem jüdischen Großvater erfahren? Warum hat er sich trotzdem nicht für das Schicksal der verfolgten Juden interessiert? Ging die "gesellschaftliche Isolation" der Soldaten tatsächlich so weit, dass man in der Kaserne weder von der Bücherverbrennung noch von der Kristallnacht etwas mitbekam?
Wehrmachtssoldat Schmidt mit "einwandfreier" NS-Haltung
In den fünf Monaten vom September 1941 bis Januar 1942 kam der Offizier Schmidt mit seiner Panzerdivision bis an den Stadtrand von Leningrad – doch kein Wort in seinen Aufzeichnungen über das Schicksal der eingekesselten Stadt, auch von den Kriegsverbrechen der Heeresgruppe Mitte will er nichts bemerkt haben.
Da der Altbundeskanzler auf Fragen und die Bitte um Stellungnahmen nicht antwortete, kann die Autorin nur mutmaßen. Sie zweifelt nicht daran, dass der junge, ehrgeizige Wehrmachtssoldat Schmidt von der NS-Ideologie "kontaminiert" gewesen sei, auch wurde ihm von Vorgesetzten wiederholt eine "einwandfreie" NS-Haltung bescheinigt. Die Quellen legen nahe, dass Helmut Schmidt erst im Lauf des Kriegs zu einem Anti-Nazi wurde.
Die Sicht der Soldaten auf den Zweiten Weltkrieg ist aufschlussreich, dies zeigt nicht nur die Biografie des jungen Helmut Schmidt, sondern auch René Freunds "Mein Vater, der Deserteur". Der Wiener Gerhard Freund war sechs Jahre jünger als Helmut Schmidt.
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Cover: "Mein Vater, der Deserteur" von René Freund© Deuticke Verlag
Politische Unschuld des jungen Soldaten berührt
Als 18-jähriger wurde er im August 1944 eingezogen. Paris erreichte er eine Woche vor der Befreiung, und sein Kriegstagebuch beginnt mit seiner Desertion – ohne allerdings, dass das Wort auftaucht, er spricht nur von "verschwinden". Gefahr droht ihm und seinem Kameraden "Papa" von allen Seiten, erst als Kriegsgefangene der Amerikaner sind die beiden halbwegs in Sicherheit.
Was dieses ungewöhnliche Dokument so berührend macht, ist die politische Unschuld des 18-jährigen Autors. Er schreibt von Menschen, die sich ängstigen, frieren, hoffen, das alles erzählt von einem begabten Jugendlichen, der bereits weiß, dass man in aussichtsloser Lage seine Würde nur mit Ironie retten kann.
René Freund reist 2010 mit seinen eigenen Kindern an die Schauplätze, die sein Vater beschrieben hatte. Er sei ein "Kriegstourist", wie er schreibt – getrieben jedoch nicht von Sensationsgier, sondern dem Wunsch zu verstehen.

Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biografie 1918 bis 1945
Piper Verlag München, 8. Dezember 2014
352 Seiten, 19,99 Euro

René Freund: Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte
Deuticke Verlag Wien, 29. September 2014
208 Seiten, 18,90 Euro, auch als E-Book

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