Zwei Wochen im Herbst

Von Jochen Stöckmann · 23.10.2006
Um ihre Solidarität mit dem polnischen Arbeiteraufstand in Warschau zu demonstrieren, versammelten sich ungarische Studenten am 23. Oktober 1956 vor dem Parlamentsgebäude in Budapest und forderten Demokratie. Es sollte der Auftakt zu einem zweiwöchigen Aufstand werden, der durch den Einmarsch der Roten Armee ein Ende fand.
Anna Kéthly: " Studenten und Arbeiter, Stadtbewohner und Bauern, junge Burschen und alte Mütterchen rebellierten zusammen gegen Unterdrückung und Terror der letzten acht Jahre des Einparteiensystems. In diesem Freiheitskampf gab es keine faschistischen Kräfte, wir brauchten keine auswärtige, fremde Aufrührung. "

Im Untersuchungsausschuss der Vereinten Nationen sollte Anna Kéthly, ehemalige Ministerin im Kabinett von Imre Nagy, Anfang 1957 klären, was sich tatsächlich in Ungarn im Herbst 1956 ereignet hatte. Denn was die Westmächte als demokratischen "Volksaufstand" einordneten, war von der Sowjetunion als "faschistische Konterrevolution" mit Panzern niedergewalzt worden. Begonnen hatte alles mit einer Demonstration am 23. Oktober 1956: Vor dem Parlamentsgebäude in Budapest versammelten sich 200.000 Menschen, meist Studenten, und bekundeten lautstark ihre Solidarität mit dem Arbeiteraufstand in Polen. Wie in Warschau, so forderte auch die Menge in Budapest Demokratie, das Ende des kommunistischen Einparteiensystems und die Befreiung von der sowjetischen Vorherrschaft. Darauf reagierten Moskau und seine Marionettenregierungen nicht sofort mit militärischer Gewalt - schließlich war Nikita Chruschtschow nach dem Tode des Diktators Stalin mit dem Versprechen auf eine Lockerung des totalitären Regimes, mit der Aussicht auf "Tauwetter" an die Macht gekommen.

In Budapest wird ein in der Bevölkerung beliebter Reformkommunist vorgeschickt, um die Massen zu beruhigen: Imre Nagy tritt auf den Balkon des Parlamentsgebäudes, kündigt in seiner Rede "innerparteiliche Veränderungen" an, bringt die Demonstranten schließlich dazu, den Platz friedlich zu verlassen. Da aber fallen gegen 21 Uhr Schüsse, Geheimpolizisten feuern auf Befehl des Innenministers Ernö Gerö aus der Rundfunkzentrale heraus in die Menge. Nach heftiger Schießerei stürmen Demonstranten das Gebäude, der bewaffnete Aufstand hat begonnen. In Stadtvierteln und Fabriken, aber auch in Kasernen der ungarischen Armee bilden sich Widerstandskomitees. Zu ihnen gehörte auch Gergely Pongratz:

" Charakteristisch für die meist sehr jungen Kämpfer war auch, dass sie sich um Fragen der "großen Politik" wenig kümmerten. Wer eine Waffe hatte und für die 16 Punkte der Studenten kämpfte, war ein Kamerad. "

Nur vereinzelt kommt es zu Gefechten mit den im Lande stationierten sowjetischen Truppen: Chruschtschow überlässt es den einzelnen Generälen zu reagieren. Er wartet ab, erteilt keinen generellen Befehl zum militärischen Eingreifen. In dieser unübersichtlichen Lage suchen die ungarischen Kommunisten den Kompromiss, setzen Imre Nagy als neuen Ministerpräsidenten ein, jenen Genossen, den sie im Jahr zuvor als bürgerlichen "Rechtsabweichler" aus sämtlichen Parteiämtern entfernt haben. Nagy muss zwischen allen Lagern lavieren, denkt etwa über einen Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt nach, weiß aber nicht, wie Moskau auf diese Schwächung seines Machtbereichs, auf ein Bröckeln des Ostblocks reagieren würde:

[Reporter] Herr Ministerpräsident, glauben Sie, dass Sie in Ihren Verhandlungen mit den Russen nur dann Erfolg haben können, wenn das alles innerhalb des Warschauer Paktes bleibt? - [Imre Nagy] Nein, das scheint mir nicht! - [Reporter] Also, was ist mit dem Warschauer Pakt? - [Imre Nagy] Nun ja, ich rede eben davon. - [Reporter] Nun, was ist, sind wir drin im Warschauer Pakt oder nein? - [Imre Nagy] Vorläufig sind wir drinnen. - [Reporter] Haben Sie gesagt, Ungarn will aus dem Warschauer Pakt austreten? - [Imre Nagy] Wir haben Verhandlungen begonnen.

Nagy aber fehlen die Partner für Verhandlungen: Den direkten Draht zu Moskau behält Janos Kadar, neuer Parteichef der ungarischen Kommunisten. Auf Seiten der Aufständischen aber ist eine organisierte Struktur nicht zu erkennen. Der Ministerpräsident sitzt zwischen allen Stühlen. So verhängt Nagy etwa das Standrecht, garantiert aber gleichzeitig jedermann nach Niederlegen der Waffen eine Amnestie. Nachdem er ein so genanntes Militärkomitee innerhalb der kommunistischen Partei von einem gewaltsamen Gegenschlag hat abbringen müssen, erkennt Nagy allerdings endgültig die Tücken der strikt eingehaltenen "Parteidisziplin": Am 28. Oktober erklärt der ungarische Ministerpräsident den Aufstand zur "national-demokratischen Revolution" und kündigt die Auflösung der Geheimpolizei an. Schließlich nimmt der Kommunist Nagy Vertreter der bürgerlichen Opposition als Minister in sein Kabinett auf. Damit - und wohl auch mit Ungarns Streben nach Neutralität - ist für Moskau eine Grenze überschritten. Auf Befehl Chruschtschows greifen am 4. November sowjetische Panzer Budapest an, im MG-Feuer der Roten Armee sterben Tausende von Aufständischen, viele hundert Oppositionspolitiker - unter ihnen auch Imre Nagy - werden nach Geheimprozessen hingerichtet, mehr als 200.000 Ungarn fliehen in den Westen.