"Zwanzig Lewa oder tot"

Mit dem Weberschiffchen durch Zeit und Raum

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"Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen" von Karl-Markus Gauß. © Zsolnay Verlag/Imago/Westend61
Von Marko Martin · 01.02.2017
Karl-Markus Gauß erzählt in seinem neuen Buch "Zwanzig Lewa oder tot" von seinen Reisen durch Osteuropa. Ein stilles, witziges Buch, das den Menschen, denen Gauß begegnet ist, viel Raum lässt - und das ein Gegengift zum grassierenden nationalistischen Wahn ist, urteilt unser Kritiker
"Der Mechanismus der Überbietung, von dem wir in der medialen Gesellschaft mit Verbrechen, Katastrophen, Unglücksfällen in Echtzeit und mittels Bildern aus intimer Nähe traktiert werden und traktiert zu werden begehren, muss immer drastischere Bilder ausstoßen und fortwährend neues Grauen finden oder erfinden." – So weit, so bekannt.
Doch nun kommt die Pointe: Der in Salzburg lebende Schriftsteller und Osteuropa-Aficionado Karl-Markus Gauß tappt in seinem neuen Buch "Zwanzig Lewa oder tot" nicht etwa in die Falle einer gängigen und längst wohlfeil gewordenen Kulturkritik, sondern bezieht sich hier auf den seinerzeit populären Schriftsteller Curzio Malaparte und dessen reißerischen Weltkriegs-Roman "Kaputt", in welchem ein Zagreber "Augensammler" beschrieben wurde - ein kroatischer Ustascha-Faschist, der die Augen seiner Opfer angeblich in einer mit Früchten gefüllten Schale aufbewahrt hatte. Heute würde man sagen: "Fake news."

Besuche in Zagreb, Sofia und Novi Sad

Dabei hätte es, gibt der versierte Literaturkenner und Reisende Gauß zu bedenken, solcher Übertreibungen gar nicht bedurft, war Zagreb doch einst tatsächlich ein Ort der Massaker gewesen. So wie auch die Wojwodina, wo vor einem knappen Jahrhundert die donauschwäbische Mutter des Autors zur Welt gekommen war - ehe auch dort "das jahrhundertelange Ineinander der Nationen und Nationalitäten zerschlagen wurde".
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Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß.© picture alliance/dpa/Helmut Fohringer
Ob Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954, in die Republik Moldau reist, sich in Zagreb, Sofia, Plovdiv oder in Novi Sad umschaut – es geschieht immer in dieser Erkenntnis fördernden Gestimmtheit: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, Erinnerung an oftmals vergessene Schriftsteller als mehr oder minder skrupulöse Chronisten eben jener Zeit - und vor diesem Hintergrund dann eine Alltags-Neugier, die es beim Bestaunen oder Verurteilen des einen oder anderen Oberflächen-Phänomens nicht belässt.

Großes Lesevergnügen

Was für ein Lektüre-Vergnügen: Wie ein Weberschiffchen gehen die Reflexionen des Autors durch Zeit und Raum, doch nichts Hektisches oder Bildungshuberndes haftet dem an; der Flaneur ist weder in Eile noch kokettiert er mit einer Peter-Handkeschen Attitüde des einsamen Sehers.
Denn zum Glück - schließlich sind wir hier in Osteuropa - tauchen immer wieder Menschen auf, die im wahrsten Wortsinn Originale sind und keine Klischees: Da ist etwa der Übersetzer Boris Peric, der Ludwig Wittgenstein ins Kroatische übersetzt hat und danach Zagreber Vorstadt-Gangsta-Rapper für einen Sprechgesang des "Tractatus logico-philosophicus" begeistern konnte.
Der Liebste aber ist uns jener Kellner aus Elias Canettis bulgarischem Geburtsort Russe, der seine ambivalenten Jahre in Osnabrück auf diese Weise resümiert: "Mein Deutsch ist schlecht, aber mein Opel ist gut." Das Zivile, Gewitzte und Heterogene als Antidot zum nationalistischen Wahn des "Reinen" - auch davon erzählt dieses stille Buch. Und ist auf eindringliche Weis damit aktueller als so mancher Nachrichtenkommentar.

Karl-Markus Gauß: Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen
Zsolnay Verlag, Wien 2017, 208 Seiten, 22,00 Euro