Zuwanderung

Geld aus EU-Sozialfonds "in Deutschland anwenden"

Rumänen warten vor einem Bus nach Deutschland und Belgien darauf, dass ihr Gepäck verladen wird.
Rumänen warten vor einem Bus nach Deutschland und Belgien darauf, dass ihr Gepäck verladen wird. Seit 1. Januar 2014 gilt für sie die volle EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. © picture alliance / dpa/ Robert Ghement
Ullrich Sierau im Gespräch mit André Hatting · 09.01.2014
Der Sozialdemokrat Ullrich Sierau schlägt vor, nicht ausgeschöpfte EU-Gelder zur Integration von Rumänen und Bulgaren an deutsche Kommunen zu geben. Man solle die Zuwanderer nicht ausgrenzen, sondern ihr Potenzial sehen.
André Hatting: „Wer betrügt, der fliegt“, mit diesem Spruch aus dem Setzkasten des Populismus treibt die CSU die große Koalition gerade vor sich her und gibt sich selbstbewusst – das stehe ja wohl im Koalitionsvertrag. Die Bundeskanzlerin will die Diskussion versachlichen und hat dafür einen Ausschuss aus Staatssekretären gebildet, der nimmt heute seine Arbeit auf.
Anlass für uns, mit dem Oberbürgermeister der Stadt zu sprechen, die besonders von diesem Problem betroffen ist: Dortmund. Guten Morgen, Ullrich Sierau!
Ullrich Sierau: Ja, einen schönen guten Morgen nach Berlin und auch an die Hörerinnen und Hörer Ihres Senders!
Hatting: Die CSU behauptet ja, sie reagiere nur auf die Hilferufe aus den Städten und Kommunen. Fühlen Sie sich als SPD-Politiker ausgerechnet von der CSU erhört?
Sierau: Na ja, das kann man so nicht sagen. Also die CSU hat ja weiland auch dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien zugestimmt im Bundestag seinerzeit, ist aber offensichtlich nicht berücksichtigt worden, was das alles an Nebenwirkungen erzeugen kann, und jetzt, wo es zu spät ist, wacht dann auch die CSU auf. Das ist ein bisschen spät. Also die Vorgänger-Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP hat das Thema ziemlich schleifen lassen, um nicht zu sagen, verschlafen.
Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass es da eine gesamte Strategie geben muss, eine Integrationsstrategie, meinetwegen auch einen europäischen Generationenvertrag, denn das ist viel komplexer. Das, was da jetzt gefordert wird, quasi die Grenzen zuzumachen, wie das ja auch schon der CSU-Innenminister gefordert hatte, das ist an Fantasielosigkeit kaum noch zu überbieten. Und dieser Populismus, der da jetzt aus Bayern in die Republik geschallt ist, hat ja wohl mehr damit zu tun, dass da jetzt bald Kommunalwahlen anstehen und man sich davon ein paar mehr Wählerstimmen verspricht.
Wir brauchen eine Versachlichung der Debatte, dazu kann dieser Koalitionsausschuss aus den Staatssekretären durchaus ein Beitrag sein. Wir brauchen eine Klärung rechtlicher Fragen, wir brauchen offensichtlich aber auch ein bisschen Nachhilfe für die CSU, damit sie überhaupt erst mal die Rechtslage kennenlernt, denn es gibt natürlich schon eine ganze Reihe von Regelungen, die vermeintlichen Missbrauch auch unterbinden können, die müssen allerdings auch angewandt werden.
Aber das alleine ist nicht das Thema, sondern wir brauchen eine Strategie, die uns auch auf der kommunalen Ebene in die Lage versetzt, hier auch Integration zu leisten, sowohl für Menschen, die qualifiziert sind und die wir auch als Fachkräfte hier brauchen, aber wir müssen auch denen helfen, die nicht so qualifiziert sind, aber denen einen Weg ins Leben bahnen, und ist ja nicht ausgeschlossen, dass die dann beispielsweise auch mit der erworbenen Qualifikation wieder zurück in ihre Herkunftsländer gehen und dort dann auch zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilität beitragen.
Hatting: Ja, Herr Sierau, jetzt haben wir sehr, sehr, sehr viele Punkte genannt, vor allem immer wieder von einer Strategie zur Integration gesprochen. Was ist denn für Sie das zentrale Element dieser Strategie?
Sierau: Das zentrale Element ist, dass man die Menschen, die hierher kommen, nicht ausgrenzt, sondern dass man sie mit ihren Chancen und Möglichkeiten auch als ein Potenzial begreift.
Hatting: Das kostet aber auch Geld, oder?
Sierau: Das kostet natürlich Geld, aber es ist ja Geld da. Es ist ja schon von europäischer Seite den Beitrittsländern Bulgarien und Rumänien über die Sozialfonds Geld in Aussicht gestellt worden, das ist dort nicht abgerufen worden, ist ein großes Versäumnis der dortigen Regierungen. Das bedeutet aber, dass zum Beispiel Herr Schäuble als Bundesfinanzminister noch mindestens 200 Millionen Euro hat, die er gar nicht nach Brüssel geschickt hat, damit das Geld weitergeleitet wird nach Bulgarien und Rumänien, weil die Ausschöpfung dieser Mittel in diesen Ländern nur zu 15 oder 20 Prozent erfolgt ist. Das heißt, es ist keine Frage mangelnden Geldes, Geld ist da, was vorgesehen war für entsprechende Maßnahmen in den Herkunftsländern, in den Beitrittsländern, und wenn da das Geld nicht abgerufen wird, dann müssen wir dieses Geld anwenden, um dann hier die Auswirkungen dieser verfehlten nationalen Politik in Bulgarien und Rumänien dann auch zu bewältigen.
"Kommunen werden alleine gelassen"
Hatting: Herr Sierau, bei Ihnen in Dortmund leben etwa 4.500 Bulgaren und Rumänen, das sind nur 0,8 Prozent der Dortmunder. Wie viele von denen missbrauchen denn das Sozialsystem, wie immer behauptet wird?
Sierau: Ja, ganz wenige. Also das ist auch sozusagen eine Chimäre, die hier entwickelt wird, viele von denen, die hier sind, die studieren an unseren Universitäten und Hochschulen hier in Dortmund, wir haben fast 50.000 Studentinnen und Studenten, davon um die 200, 300 Menschen aus Rumänien und Bulgarien, viele sind als Fachkräfte im Gesundheitswesen oder auch in Dienstleistungsberufen tätig, und das, was da als Missbrauch formuliert wird, das ist eher eine Randerscheinung, bisher jedenfalls. Wir haben auch darauf hingewiesen, dass man das so beibehalten muss. Da haben wir auch kein Defizit in dem Umfang, wie das hier behauptet wird, sondern das Defizit haben wir da, wo wir den Menschen dabei helfen, ihre Lebenszukunft zu entwickeln, und da werden die Kommunen alleine gelassen, weil das nicht ausreichend von seinerzeit der Bundesebene und auch auf der europäischen Ebene erkannt worden ist bzw. weil die vorgesehenen Konzepte nicht gegriffen haben. Und da müssen wir nachbessern. Und wenn das ein Ergebnis dieses Arbeitskreises ist, dann wäre ich froh. Ich wäre allerdings auch froh, wenn die sich nicht bis nach der Europawahl Zeit lassen würden, um da ihre Konzepte zu entwickeln, sondern die können das gerne auch vorher tun. Wir müssen frühzeitig Konzepte entwickeln, und wir laden die auch gerne als Städte ein, sich das mal auch vor Ort anzugucken, damit sie auch die Problemlagen, aber auch die Chancen, die in diesem Thema stecken, kennenlernen.
Hatting: Und wenn sie sich vor Ort umschauen, dann sehen sie möglicherweise auch überfüllte und verwahrloste Wohnungen, in denen die Arbeitsmigranten hausen. Würde da das geplante neue Wohnungsaufsichtsgesetz Ihnen weiterhelfen?
Sierau: Also wir haben da natürlich Probleme gehabt, das hat damit zu tun, dass es private Immobilieneigentümer gegeben hat, die diese Situation schamlos ausgenutzt haben. Da haben wir aber mit allen uns rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln gegengesteuert. Das war auch durchaus wirkungsvoll und erfolgreich. Wir haben jetzt hier eine neue Option aus dem Wohnungsgesetz, dass wir drauf achten, dass mindestens neun Quadratmeter Wohnfläche pro Person vorgehalten werden. Das ist natürlich ein weiteres Instrument, um gegen solche Wohnungseigentümer und Vermieter vorzugehen, die das Elend der Zuwanderer im Prinzip ausnutzen beziehungsweise noch verstärken.
"Mechanismen der Zuwanderung sind fast was Archaisches"
Hatting: Warum ziehen Osteuropäer eigentlich besonders gerne in arme Städte wie Duisburg, Dortmund oder auch Berlin?
Sierau: Das ist falsch, die ziehen auch nach München, die ziehen auch nach Köln, also Köln beispielsweise hat 10.000 zugewanderte Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Das hat ein bisschen damit zu tun, Mechanismen der Zuwanderung sind fast was Archaisches, wenn irgendwo mal jemand angekommen ist, dann ziehen nachher andere nach, die den kennen, und dann wird daraus ein Gruppeneffekt. Das hat man auch erlebt, wenn Deutsche aus Deutschland nach Brasilien oder anderswohin ausgewandert sind, das gilt heute auch noch in der Türkei, wenn man von Ost- nach Westanatolien zieht.
Also insofern ist das ein Mechanismus, der damit natürlich auch zusammenhängt, dass es hier auch eine Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln, und Städte, die nicht so reich sind, die bieten natürlich mehr Ansatzpunkte, weil dort die Lebenssituation auch günstiger ist als in solchen veredelten Städten, die im Prinzip Menschen, die geringe Einkommen haben, von vornherein ausschließen und auch nichts dafür tun, dass es hier eine soziale Inklusion und Integration gibt, was im Übrigen auch zu diskutieren ist, was in diesem Zusammenhang hier aber jetzt eben sich dann in der Form bemerkbar macht, dass da natürlich eine verstärkte Zuwanderung ist. Aber Sie haben es schon gesagt, bei uns sind es unter einem Prozent, und das gilt auch für andere Städte. Also da ist es jetzt nicht so, dass nur einige wenige das jetzt besonders auszuhalten haben, sondern wir haben natürlich eine verstärkte Situation, das muss man sich dann im Zahlenwert auch angucken, auch was da jetzt aktuell eventuell passiert.
Hatting: Ullrich Sierau, SPD-Oberbürgermeister von Dortmund. Ich danke für das Gespräch, Herr Sierau!
Sierau: Ihnen auch und weiter einen schönen Tag und schönes neues Jahr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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