Zuwanderung

"Froh sein, wenn sie zu uns kommen"

Einer der täglichen Linienbusse nach Rumänien in Frankfurt am Main. Viele, die hier einsteigen, pendeln regelmäßig zwischen ihrer Heimat und einer Arbeitsstelle in Deutschland.
Einer der täglichen Linienbusse nach Rumänien in Frankfurt am Main. Viele, die hier einsteigen, pendeln regelmäßig zwischen ihrer Heimat und einer Arbeitsstelle in Deutschland. © dpa / Boris Roessler
Achim Dercks im Gespräch mit Ute Welty · 23.05.2014
Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Achim Dercks, hat die gestiegene Zahl der Zuwanderer nach Deutschland begrüßt. Diese sei nötig, auch weil die Fachkräfte den Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit sicherten.
Ute Welty: Deutschland erlebt einen Boom, einen Zuwanderungsboom: Noch nie in den letzten 20 Jahren haben so viele Menschen versucht, sich hier eine Existenz aufzubauen. Für das laufende Jahr erwarten Experten einen weiteren Anstieg der sogenannten Nettozuwanderung nach Deutschland auf etwa 450.000 Menschen.
Ein Grund dafür ist die wirtschaftliche Attraktivität: Deutschland weist mit Österreich die geringste Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union auf. Und: Zuwanderung gilt als eines der Rezepte gegen den Fachkräftemangel, den die Wirtschaft als großes Problem sieht.
Der deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt ebenfalls, dass den Unternehmen die Fachkräfte ausgehen. Aber was heißt das im Umkehrschluss für die Zuwanderung? Diese Frage kann ich gleich weitergeben an Achim Dercks, den stellvertretenden DIHK-Hauptgeschäftsführer. Guten Morgen!
Achim Dercks: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wenn Zuwanderung ein Teil der Lösung ist, wie soll diese Zuwanderung Ihrer Meinung nach aussehen?
Dercks: Nun, wir haben hier ja zwei Gruppen zu unterscheiden. Einmal die Zuwanderung aus den EU-Nachbarländern, die ja auch hauptverantwortlich jetzt für den Anstieg ist – hier haben wir Freizügigkeit, und hier ist es in der Tat so, dass allein die wirtschaftlichen Unterschiede Deutschland attraktiver machen und die Menschen kommen nach Deutschland, und das ist ja fast so einfach wie von Nordrhein-Westfalen nach Bayern zu ziehen, was zumindest die formale Seite angeht.
Welty: Was kompliziert genug sein kann.
Öffnung in den vergangenen Jahren
Dercks: Was kompliziert genug sein kann. Aber gleichwohl haben wir daneben eben die Baustelle, die davor ja die Diskussion in Deutschland bestimmt hat, nämlich die Frage: Wie weit öffnen wir uns für Zuwanderer aus aller Welt? Und da hat es in den vergangenen Jahren aus unserer Sicht zu Recht und zum Glück ja auch Erleichterung gegeben, sodass wir perspektivisch eben auch für Zuwanderer aus anderen Kontinenten mit guter Qualifikation hoffentlich attraktiver werden.
Welty: Aber reicht das denn?
Dercks: Na ja, es reicht, was den Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung angeht, natürlich nicht. Die Zuwanderung kann immer nur ein Teil des Engagements sein und der Strategie. Wir müssen natürlich die Potenziale im Inland heben, von Älteren über Frauen und auch jungen Menschen mit schlechten Schulabschlüssen gibt es hier auch noch Potenzial. Das steht ja außer Frage. Aber gleichwohl ist es gut, dass wir dann doch ein bisschen weniger emotional im Durchschnitt über Zuwanderung reden als noch vor zehn Jahren.
Welty: Lassen Sie uns noch mal auf diese Zahl gucken, auf diese 450.000 Menschen, die prognostiziert sind für dieses Jahr. Ist das eine Zahl, mit der Sie was anfangen können?
Dercks: Ja, das ist eine Zahl, die ja deutlich höher liegt als der Durchschnitt der letzten Jahre, und wir selber hatten, bevor das so richtig hoch ging mit den Zahlen, gesagt, wir bräuchten eigentlich 1,5 Millionen Arbeitskräfte bis 2025 aus dem Ausland. Da haben alle gesagt, das ist völlig unrealistisch, wir kriegen maximal 200.000 im Durchschnitt, dann sind wir auf ein paar 100.000 über die Jahre. Also das ist eigentlich eine gute Entwicklung.
Wir brauchen die Menschen, und da die Zuwanderer ja im Durchschnitt inzwischen auch deutlich besser qualifiziert sind als früher, ist das schon eine Entlastung für den deutschen Arbeitsmarkt, wo es in Bereichen wie Pflege, Hotel, Gastronomie, Bau ja auch jetzt schon eklatante Fachkräftebedarfe gibt. Und diese Lücke füllen sozusagen diese Menschen insbesondere aus Europa, und das ist eine Win-win-Situation, weil die Menschen ein Einkommen haben und auch ihre Perspektiven für ihr Leben natürlich verbessern.
"Keine Anreize für Sozialbetrug setzen"
Welty: Auf der anderen Seite ist es ja Fakt, dass eben nicht nur die kommen, die den Fachkräftemangel ausgleichen, das hat CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer mit dem mindestens eingängigen Satz beschrieben: "Wer betrügt, der fliegt." Wie wollen Sie Sozialbetrug verhindern?
Dercks: Nun, wir haben ja inzwischen eine etwas sachlichere Debatte über das Thema als zu Jahresbeginn. Es ist ja richtig, dass in einzelnen Kommunen geballt sozusagen das tatsächlich eine Herausforderung darstellt. Das ist natürlich aus Sicht der Wirtschaft auch nicht das Ziel der Öffnung der Grenzen.
Gleichwohl ist das ein kompliziertes Thema, wie auch die Beteiligten jetzt ja alle merken, und man muss da sehr genau hinschauen, was rechtlich überhaupt innerhalb der EU an Einschränkungen möglich ist. Wichtig ist, dass Menschen zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen können und genauso richtig ist aber auch, dass wir im Rahmen des rechtlich Möglichen alles verhindern, dass Menschen von vornherein mit dem Ziel herkommen, sozusagen zum Beispiel Sozialleistungen zu bekommen. Da gibt es kleinere Stellschrauben, und an denen müssen wir jetzt drehen, um da gar keine Anreize zu setzen.
Welty: Ist es sachlich, wenn die Kanzlerin jetzt sagt, Europa ist keine Sozialunion?
Dercks: Nun, das ist eine Zusammenfassung zunächst einmal der Rechtslage, denn wir haben eine klare Arbeitsteilung, die vorsieht, dass Sozialleistungen, gerade auch Sozialhilfe, also die Grundsozialleistungen Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten sind. Und so lange es Wohlstandsunterschiede in großem Ausmaß zwischen den einzelnen Ländern gibt, wird es auch nicht anders gehen, als über die Subsidiarität zu sagen: Der Staat, wo ein Mensch lebt, ist auch verantwortlich für die Absicherung im Krisenfall. Alles andere würde zu Verwerfungen führen, die, glaube ich, auch keiner dann aushalten würde.
"Wir sind auf ausländische Fachkräfte angewiesen"
Welty: Nicht wenige Experten sagen, der Fachkräftemangel ist der beste PR-Gag der letzten 20 Jahre, weil nämlich es eigentlich darum geht, vor allen Dingen billige Arbeitskräfte zu besorgen und nicht unbedingt die deutschen teuren. Was halten Sie dem entgegen?
Dercks: Ja, das ist schlechterdings Unsinn, um das so deutlich zu kontern, denn Sie brauchen sich nur die demografischen Entwicklungen anschauen: Wir verlieren in den nächsten Jahren bis 2025 noch mal fünf Millionen potenzielle Arbeitskräfte, einfach durch die Verschiebung in der Altersstruktur. Schon jetzt finden Unternehmen kaum Azubis in vielen Regionen, weil wir 100.000 Schulabgänger weniger haben pro Jahr als noch vor einigen Jahren.
Also hier ist eine dramatische Umwälzung im Gange, die jetzt eben sich auch am Arbeitsmarkt niederschlägt, und wir sollten alle froh sein, wenn wir Beitragszahler und Steuerzahler aus anderen Ländern zu uns bekommen, die nicht nur die Arbeit machen und damit den Unternehmen und ihrer Wettbewerbsfähigkeit helfen, sondern die vor allen Dingen auch unsere Renten und Sozialleistungen mit zahlen. Da sind wir dringend drauf angewiesen.
Welty: Zwischen Zuwanderung und Fachkräftemangel – Achim Dercks, der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer. Ich danke fürs Interview!
Dercks: Ja, gern geschehen, Frau Welty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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