Zustand der Europäischen Union

Bedröppelt, aber nicht ohne Kampfgeist

Der belgische Premier Charles Michel (l.) und Luxemburgs Premier Xavier Bettel.
Der belgische Premier Charles Michel (l.) und Luxemburgs Premier Xavier Bettel. © picture alliance / dpa/ Pascal Rossignol
Von Annette Riedel, Studio Brüssel · 29.06.2016
In der EU haben die Aufräumarbeiten begonnen. Die Gemeinschaft der 27 ohne Großbritannien müsse nun tunlichst ein neues gemeinsames Selbstverständnis entwickeln, kommentiert Annette Riedel. Sonst könnte mit dem Brexit der Zünder scharf gestellt werden am Sprengsatz für die Union.
"Warten auf Godot" heißt ein absurdes Theaterstück von Samuel Beckett, in dem die beiden Protagonisten stundenlang auf einen gewissen Godot warten, von dem sie nicht wissen, ob er überhaupt kommen wird. Etwa so ergeht es der 27er-EU, die nach dem Referendum auf den formellen Austrittsantrag Londons wartet. Erst dann kann nach allgemeiner Lesart über die Ausstiegsmodalitäten und die künftigen Beziehungen verhandelt werden. Die EU ist jedenfalls bis auf Weiteres gut beraten, davon auszugehen, dass er kommt. Jedes Gedankenspiel, dass dieser Godot beziehungsweise dieser Austritt sich gar nicht materialisiert, muss ausschließlich den Briten selbst vorbehalten bleiben – wenn überhaupt.
Angesichts der Turbulenzen nach dem britischen Votum scheint der "Exit vom Brexit" vielen vielleicht inzwischen politisch wünschenswert. Ausgeschlossen ist er nicht, aber aus demokratietheoretischen Überlegungen heraus hochgradig unwahrscheinlich.

Sich der Brexit-Realität stellen

Wenn sich also die EU-Staats- und Regierungschefs heute erstmals seit dem EU-Beitritt der Insulaner 1973 ohne Großbritannien zusammengesetzt haben, dann taten sie das in dem Bewusstsein, sich der Brexit-Realität stellen zu müssen. Trennung von den Briten und Neuordnung der Beziehungen mit ihnen sind das eine. Welches Selbstverständnis – tunlichst ein gemeinsames – entwickelt die EU minus Briten, ist das andere, unterm Strich Wesentlichere. Sonst könnte mit dem Brexit der Zünder scharf gestellt werden am Sprengsatz für die Union, der schon die Griechenland-Rettung hätte sein können und der die Flüchtlingskrise noch immer sein kann.
In der EU haben die Aufräumarbeiten begonnen, noch einigermaßen bedröppelt, aber nicht ohne Kampfgeist. Erklärtes Ziel, mit etwas Abstand im September in Bratislava über die Marschrichtung vertieft zu beraten und zu befinden. Mehr war heute nicht zu erwarten angesichts der relativen Schockstarre, in die der Kontinent nach dem Brexit-Votum kollektiv geraten ist. Erst die Trauerarbeit – dann die Kärrnerarbeit.
Denn Kärrnerarbeit wird es werden, gemeinsame Schlussfolgerungen für die zukünftige Richtung Europas zu ziehen.

Deutschland und Frankreich werden an Gewicht zulegen

Welche Antworten auch immer die EU-Staatenlenker auf diese Fragen finden werden – an Vertragsveränderungen werden sie sich auf absehbare Zeit nicht heranwagen. Schon gar nicht die beiden Schwergewichte Frankreich und Deutschland, die ohne Großbritannien noch einmal an Gewicht zulegen. Zu normativ ist die faktische Kraft des Brexit-Referendums, um sie zu motivieren, ihrem jeweiligen Wahlvolk, gar in einem Wahljahr, solche Wünsche zur Zustimmung vorzulegen.
Während die EU jetzt also erst einmal geschlossen auf Godot wartet, hier noch ein kleines Post Skriptum an die Adresse des scheidenden britischen Premiers: Hätte David Cameron in den sechs Jahren als Premier häufiger so respektvolle, anerkennende, ja warme Worte für die Leistungen der EU gefunden wie gestern, dann hätte er es sicher leichter gehabt, die Briten zu überzeugen, dass es sich lohnt, diesem Club anzugehören.
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