Zurück aufs Land

Chinas überflüssige Wanderarbeiter

Chinesische Wanderarbeiter auf einer Baustelle in Jiujiang, China.
Chinesische Wanderarbeiter auf einer Baustelle in Jiujiang, China. © picture alliance / dpa / Zhang Haiyan
Von Axel Dorloff · 19.12.2016
Die neue Arbeitswelt macht viele Wanderarbeiter in China überflüssig. Sie kehren zurück nach Hause, in die Dörfer - und manche machen sich selbständig. Andere wiederum sollen über staatliche Programme eingegliedert werden.
Es ist genau der Blick, den Li Yingjun vermisst hat. Der Blick über die grünen Berge der Provinz Guizhou im Südwesten Chinas. Scheinbar endlos schlängeln sich die dicht bewachsenen Hügel durch die Landschaft. In einer Gegend, die für nichts wirklich berühmt ist.
Guizhou gilt als ländliche Armutsprovinz. Das China der glitzernden Hochhäuser und rasanten Entwicklung ist woanders.
Aber wenn es um die Millionen-Metropolen im Osten Chinas geht, fällt Li Yingjun nicht viel Gutes ein. Er kennt viele davon. Hat als Wanderarbeiter in Guangzhou, Shenzhen und Dongguan gearbeitet. In Schuhfabriken und Spielzeugfabriken. Fünf Jahre ist Li als Wanderarbeiter alleine durch China gezogen, jetzt steht der 32-jährige vor seinem Haus in seiner Heimatprovinz Guizhou.
"Hier bin ich geboren. Es ist mein Heimatdorf, ich liebe es hier. Ich habe mich entschieden, zurückzukommen und etwas Eigenes zu beginnen. Ich musste das einfach. Ich habe mich immer nach der Gegend gesehnt, aus der ich komme und in der ich aufgewachsen bin."

Li Yingjun züchtet jetzt Schweine

Li Yingjun gehört zu den Wanderarbeitern in China, die wieder nach Hause gezogen sind. Die keine Lust mehr hatten auf ein Leben in fremden Millionenstädten. Keine Lust mehr auf Wohnen in barackenähnlichen Häusern oder überfüllten Zimmern.
Nachdem er mehrmals seinen Job verloren hat, hat er die Metropolen im Perlflussdelta, dem industriellen Herzen Chinas, wieder verlassen und ist zurück aufs Land, in das Dorf seiner Familie.
Seit seiner Rückkehr nach Guizhou züchtet Li in dem kleinen Dorf Tiangou Schweine. Die Nachfrage nach Schweinefleisch in China ist riesig. Li hat sich deshalb mit einer eigenen Zucht selbständig gemacht. Stolz zeigt er hinter seinem Wohnhaus den frisch gemauerten Schweinestall.
"Dieser Stall ist etwa 1.100 Quadratmeter groß, er hat siebzig Boxen. Der jährliche Output soll bei rund eintausend Schweinen liegen. Ich habe hier fast 100.000 Euro investiert. Einige der Schweine verkaufe ich an große Schlachthäuser. Eine Zigarettenfabrik hier in der Nähe bezieht meine Schweine für ihre Kantinen-Küche. Jeden Monat versorge ich sie mit Schweinen."
Das Geschäft mit Schweinen läuft gut. Die Chinesen essen rund die Hälfte aller Schweine auf der Welt. 1982 hat ein Mensch in der Volksrepublik durchschnittlich 13 Kilogramm Fleisch im Jahr gegessen, dieser Wert hat sich heute etwa verfünffacht.
"Ich habe mal zwei Jahre auf der Schweinefarm meines Cousins im Süden Chinas gearbeitet. Er hat mich auf die Idee gebracht. Und irgendwann dachte ich: warum nicht einfach wieder nach Hause ziehen und mich damit selbständig machen. Nachdem ich hier wieder ankam, haben mich die lokalen Behörden bei diesem Plan sehr unterstützt."

Programm für zurückgekehrte Wanderarbeiter

Zhou Yi arbeitet für die Arbeitshörden der Provinz Guizhou. In der nächsten gelegenen Großstadt Zunyi sitzt sie beim Mittagessen in einem kleinen, einfachen Nudelladen. Guizhou ist die erste Provinz in China, die ein Programm für Menschen wie Li Yingjun aufgelegt hat: für zurückgekehrte Wanderarbeiter.
Die Provinz registriert die Rückkehrer, und die Zahl steigt seit Jahren. 2011 waren es noch 520.000, im Jahr 2015 hat sich Zahl der Rückkehrer bereits auf über 1,2 Millionen verdoppelt. Ein Trend, sagt Zhou Yi.
"Auch die Zahl der Rückkehrer in unserem Landkreis steigt jedes Jahr. Das ist ein genereller Trend und hat mehrere Gründe. Einmal ist die wirtschaftliche Situation in China schwieriger geworden. Man kann zwar in den Großstädten immer noch gut verdienen, aber viele arbeitsintensive Industrien sind in andere Länder Südostasiens gezogen. Kapital zieht weg, Fabriken schließen. Es ist heute schwieriger, eine Arbeit zu finden und leichter, eine Arbeit zu verlieren."

Chinas Erfolgsmodell funktioniert nicht mehr

Chinas altes Erfolgsmodell als längste Werkbank der Welt funktioniert nicht mehr. In den vergangenen Jahren sind Millionen Jobs in der Industrie verlorengegangen. Das Land befindet sich im wirtschaftlichen Umbruch. Will nicht mehr billige Massenware wie Schuhe oder Spielzeug produzieren, sondern setzt auf Hochtechnologie und mehr Dienstleistung.
Aber der Übergang in das neue Wirtschaftsmodell ist schwierig. Vor allem für die Wanderarbeiter, die nicht ausreichend qualifiziert sind. Guizhou will die Überflüssigen systematisch auffangen.
"Es gibt zwei Ansätze für die Rückkehrer: den Wanderarbeitern bei der Arbeitssuche zu helfen oder beim Weg in die Selbständigkeit. Wer sich selbständig machen will, hat die Möglichkeit, zinsfreie Kredite und Steuererleichterungen von uns zu bekommen. Um die Qualifikation der Menschen zu erhöhen, bieten wir außerdem kostenlose Fortbildungen und Trainingsmaßnahmen an. Gemeinsam mit den Unternehmen, z.B. für Tätigkeiten in der Landwirtschaft, für Elektriker oder Schweißer. Und wir informieren: zum Frühlingsfest plakatieren wir an Bahnhöfen und Busstationen. Also dort, wo die ganzen Wanderarbeiter ankommen."
Vom Programm für Rückkehrer der Provinz Guizhou hat auch Li Yingjun profitiert. Das Geld für die Investitionen in Schweine und Schweinestall hat er zum großen Teil als zinsfreies Darlehn bekommen. Der Schweinezüchter Li Yingjun ist genau das, was sich die Provinz Guizhou erhofft: Die zurückgekehrten Wanderarbeiter sollen sich möglichst selbständig machen, gerne auch im Dienstleistungssektor. Sie sollen dabei helfen, die Provinz Guizhou weiter zu entwickeln.
Ein offizielles Werbevideo der Provinzregierung in Guizhou. In blumigen Worten geht es um die Entwicklung der Provinz in den vergangenen Jahren. Guizhou hat tatsächlich aufgeholt: es gibt heute Hochgeschwindigkeitszüge, neue Autobahnen und Tourismus.

Die Regierung fördert die Armutsprovinzen

Die chinesische Regierung hat sich die Förderung der Armutsprovinzen im Zentrum und im Westen Chinas zum Ziel gesetzt. Guizhou ist auf dem richtigen Weg, meint zumindest der höchste Parteisekretär der Provinz, Chen Min’er.
"Wir haben unsere ländliche und städtische Entwicklung koordiniert und ein Programm zur Armutsbekämpfung aufgelegt. Wir haben die öffentlichen Versorgungsleistungen verbessert, in den Bereichen Krankenversicherung, Sozialversicherung, Bildung und Beschäftigung. In den Bergregionen versuchen wir, die Entwicklung der Dörfer zu fördern. Wir wollen, dass die Menschen dort optimistischer in die Zukunft schauen."
Laut Angaben des nationalen Statistikbüros hat sich die Zahl der Wanderarbeiter in China 2015 leicht erhöht, auf knapp 170 Millionen Menschen. Viele Wissenschaftler gehen von rund 250 Millionen Wanderarbeitern aus, die in Chinas Städten leben.
2016 könnte die Zahl aber erstmals nicht steigen. Arbeiter vom Land suchen sich ihre Arbeit heute auch in umliegenden Städten und Regionen. Die Urbanisierung findet weiter statt, aber zunehmend in der eigenen Provinz. Auch, weil die Bedingungen in den Megastädten schwierig sind, sagt Tom Miller. Er hat das Buch "China’s Urban Billion" über die Urbanisierung in China geschrieben – und arbeitet als Wirtschaftsberater in Peking.
"Die größte Herausforderung ist es, Chinas Wanderarbeitern einen annehmbaren Lebensstil zu ermöglichen. Von den rund 700 Millionen Menschen, die derzeit in den Städten leben, sind etwa 250 Millionen Wanderarbeiter, die als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Sie leben in Slums oder Arbeiterbaracken. Diese Leute haben nicht das, was wir eine Wohnung nennen. Und das ist die große Herausforderung für die nächsten 20 Jahre: diesen Menschen eine würdige Unterkunft zu bieten."

Kritiker fordern die soziale Urbanisierung

Das vielleicht größte soziale Problem: in den Mega-Städten Chinas hat nur jeder Dritte ein so genanntes Hukou – eine Registrierung für die Stadt, in der er lebt. Und nur die Registrierung gewährt bestimmte Rechte: Arztbesuche, Nutzung des staatlichen Wohnungsbaus, Schulbesuche der Kinder. Kritiker wie Tom Miller fordern schon lange: neben der physischen muss es auch eine soziale Urbanisierung geben.
"Man muss den Wanderarbeitern in den Städten soziale Rechte bieten. Derzeit haben sie das in vielen Städten nicht. Wenn China seine Wanderarbeiter künftig mehr und mehr mit sozialen Rechten ausstattet, wird das in kleineren Großstädten zuerst passieren. Und das macht es wiederum für Wanderarbeiter attraktiv, in kleinere Städte zu ziehen."
Auch der Schweinzüchter aus Guizhou Li Yingjun war ein Stadtbewohner ohne soziale Rechte. Wissenschaftler sprechen von den sozialen Kosten für Chinas Wanderarbeiter: Sie dürfen keine sozialen Einrichtungen in Anspruch nehmen und leben dazu noch weit weg von ihren Familien. Müssen ihre Kinder oft auf dem Land zurücklassen. Auch Li Yingjun hat seine kleine Tochter oft nur über die Feiertagswochen gesehen. In Guizhou lebt er nun wieder mit Frau, Tochter und seinen Eltern zusammen.
"Ich wollte genau das, was ich jetzt habe: Dass die ganze Familie zusammen lebt und nicht auseinander gerissen ist. Hier kenne ich mein Leben. Als ich weit weg in den Städten im Osten gearbeitet habe, musste ich oft an mein altes Leben denken. Jetzt sind wir wieder eine Familie. Und nichts war komisch daran, wieder zurück zu kehren. "
Irgendwo alleine als Fabrikarbeiter mit dem Risiko zu leben, bald überflüssig zu sein. Li hatte darauf keine Lust mehr. Seine Welt ist heute wieder zuhause in Guizhou.
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