Zunächst von der Politik gebremst

Von Peter Hölzle · 01.12.2008
Nicht nur das Gros der Bevölkerung, auch die Politik schloss im Nachkriegsdeutschland gern die Augen vor den Verbrechen der Hitler-Diktatur, an der viele beteiligt waren. Trotz des offenkundigen Unwillens wurde - wenn auch spät - eine "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg geschaffen, die heute noch arbeitet.
"Es ist gerade das erklärte Ziel der Tätigkeit der "Zentralen Stelle", die ... Hauptverantwortlichen für die Ausführung der bekannt gewordenen Massenexekutionen, die aus eigener Befehlsgewalt oder einem eigenen inneren Antrieb gehandelt oder sich an diesen scheußlichen Verbrechen beteiligt haben, festzustellen und der gerechten Sühne zuzuführen."

Mit diesen Worten stellte der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haussmann am 10. Oktober 1959 der Landespressekonferenz in Stuttgart eine Einrichtung vor, die bereits fast ein ganzes Jahr bestand. Gemeint ist die am 1. Dezember 1958 von den Landesjustizverwaltungen eingerichtete "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen", die nach einigem Hin und Her in Ludwigsburg angesiedelt wurde. Den Anlass für die neue Ermittlungsinstanz gegen braune Barbarei hatte ein Zufall geliefert. Dem war es zu verdanken, dass zehn ehemalige SS-Leute und Polizisten, die als Mitglieder des "Einsatzkommandos Tilsit" zwischen Juni und September 1941 im deutsch-litauischen Grenzgebiet über 5500 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet hatten, in Ulm vor Gericht gestellt werden konnten.

Dieser Ulmer Einsatzkommando-Prozess öffnete 1958 einer breiten Öffentlichkeit die Augen für ein bislang kaum bekanntes Feld nationalsozialistischer Massenvernichtung. Er machte aber auch ein juristisches Dilemma sichtbar, das der heutige Leiter der "Zentralen Stelle", Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, so beschreibt:

"Bis zum Jahr 1958 war es tatsächlich so, dass nur die Staatsanwaltschaft zuständig war, in deren Bezirk ein Täter wohnte oder in deren Bezirk die Tat begangen wurde. Die meisten hier in Frage stehenden Taten wurden ja im Ausland begangen, in der damaligen Sowjetunion oder in Polen oder in anderen Ländern. Die Täter waren oft unbekannten Aufenthaltes, weshalb es keine zuständige Staatsanwaltschaft gab. Aus diesem Grund wurde die "Zentrale Stelle" hier geschaffen, die unabhängig vom Tatort und unabhängig vom Wohnort des Täters zunächst mal ermittelt."

Dass die Ludwigsburger "Zentrale Stelle" nur als Vorermittlungsinstanz tätig werden, aber nicht selbst Anklage erheben durfte, sondern dazu eine Staatsanwaltschaft einschalten musste, war ein Manko, das Verfahren gegen NS-Verbrechen unnötig verlängerte. Ungleich schwerer fielen aber andere Versäumnisse ins Gewicht. Zu Recht rügte Robert Kempner, der frühere stellvertretende amerikanische Chefankläger in den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher,

"dass die "Zentrale Stelle" erst im Jahre 58 gebildet worden ist. Wir haben aus Nürnberg sämtliche Akten, die dort nicht verarbeitet werden konnten, an die verschiedenen staatlichen Stellen im Rheinland und in Bayern und in Hessen geschickt, damit ... diese Berge von Akten bewältigt werden, denn in Nürnberg sind ja nur 199 Leute angeklagt worden. Und bei dem ganzen Verhalten zwischen '50, der Übersendung der Akten, und 58 ist ein viel zu langer Zeitraum vergangen. Das hätte viel früher gemacht werden müssen: etwa 54 oder 53."

Es wurde nicht gemacht, weil in der jungen Bundesrepublik der politische Wille dazu fehlte und die Justiz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum Interesse an der Aufklärung von NS-Unrecht hatte; schließlich hätte sie sich dann selbst mit auf die Anklagebank setzen müssen.

Zunächst von der Politik gebremst, später aber durchaus effizient arbeitend, trugen die Ludwigsburger Fahnder dann doch noch wesentlich zur Verfolgung brauner Massenmörder bei. Bis heute leitete die "Zentrale Stelle" annähernd 7400 Ermittlungsverfahren ein, oft Sammelverfolgungen mit einer großen Zahl Beschuldigter und einer Vielzahl von Straftaten. Mit den Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitz- und dem Düsseldorfer Majdanek-Prozess leistete sie Herkulesarbeit. Und heute?

" "Unser Ziel ist, sagen zu können: Wir hören hier auf, weil es nichts mehr zu ermitteln gibt, weil wir alles getan haben, was es zu tun gab", "

sagt Oberstaatsanwalt Schrimm. Aber auch 63 Jahre nach Kriegsende und fünfzig Jahre nach ihrer Gründung hat die "Zentrale Stelle" dieses Ziel nicht erreicht. Immer noch sind Vorermittlungsverfahren bei ihr anhängig.