Zum Tod von Oliver Sacks

Der Dichter unter den Neurologen

Porträt des britischen Neurologen und Schriftstellers Oliver Sacks
Der britische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks ist am 9. Juli 1933 in London geboren und am 30. August 2015 in New York City gestorben. © Imago/leemage
Von Susanne Billig · 30.08.2015
Der britische Schriftsteller und Hirnforscher Oliver Sacks ist in New York gestorben. Krankheitsgeschichten und Forschungserkenntnisse transformierte er zu Bestsellern - und thematisierte auch eigene Leiden.
Oliver Sacks: "Ich genieße den Akt des Schreibens, ganz gleich ob Tagebuch oder welche Form des Schreibens auch immer. Ich bin unglücklich, wenn ich nicht schreiben kann."
Oliver Sacks war der Dichter unter den Neurologen - sein Blick, sein Stil, sein Einfühlungsvermögen transformierten beklemmende psychiatrische Fallgeschichten in eine Literatur, die Leserinnen und Leser weltweit faszinierte. Das Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" machte den schreibenden Arzt 1985 weltberühmt.
Ausschnitt aus "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte": "Dr. P. war ein ausgezeichneter Musiker. Manchmal geschah es, dass er einen Studenten, der genau vor ihm stand, nicht erkannte - genauer gesagt: Er erkannte sein Gesicht nicht. Dr. P. sah aber auch Gesichter, wo gar keine waren: Auf der Straße tätschelte er im Vorbeigehen Hydranten und Parkuhren, weil er sie für Kinder hielt; liebenswürdig sprach er geschnitzte Pfosten an und war erstaunt, wenn sie keine Antwort gaben."
Oliver Sacks wird am 9. Juli 1933 in London in eine große jüdische Arztfamilie geboren. Seine Mutter arbeitet als Chirurgin, der Vater ist Allgemeinmediziner, er und seine drei Brüder studieren später ebenfalls Medizin. Schon früh lernt Oliver Sacks die düsteren Seiten von Institutionen kennen - und die Verletzlichkeit des Systems Mensch. 1939 bringen seine Eltern ihn und seinen Bruder Michael aus London fort in ein vermeintlich sicheres Internat. Hitlers Bomben fallen dort nicht, aber das sadistische Lehrpersonal misshandelt die Kinder. Der kleine Bruder verfällt in psychotische Wahnzustände. Diese bittere Erfahrung, erzählt Oliver Sacks später, habe ihn zur Neurologie geführt.
Schreiben über die eigenen bevorstehenden Tod
"Ich hatte immer das Bedürfnis, erzählerisch Sinn zu erzeugen und Menschen, Ereignisse, Situationen und Gefühle zu beschreiben. Ich muss ein Tagebuch führen - als Akt der Klärung und weil es meiner Fantasie freien Lauf lässt, ihr aber gleichzeitig einen Rahmen gibt."
Als junger Arzt geht er in die USA und nimmt 1965 eine Professur für klinische Neurologie in New York an. In einem Krankenhaus in der Bronx begegnet er Patienten, die in apathischer Reglosigkeit verharren, Überlebenden einer Schlafkrankheit-Epidemie. Oliver Sacks experimentiert mit einem neuen Medikament - und tatsächlich wachen die Kranken für kurze Zeit auf, glücklich, verwirrt, verzweifelt nach Jahren des Dämmerzustands. Der Neurologe macht daraus ein Buch, das unter dem Titel "Awakenings - Die Zeit des Erwachens" von Hollywood erfolgreich verfilmt wird. In den folgenden Jahrzehnten bleibt der Neurologe seinem stilistischen Prinzip treu und erobert damit ein Millionenpublikum. Meisterhaft verwebt er das Schicksal einzelner Patienten mit den Erkenntnissen neuster Forschung und präsentiert - in seinem ebenso sanften wie präzisen Stil - auch persönliche Krankheitserfahrungen.
Seit seiner Kindheit leidet er an Gesichtsblindheit, erleidet Migräneanfälle und hat schwere Unfälle. Alles das reflektiert er in seinen Büchern. Im Februar 2015 schreibt er erstmals über seine eigene Krebserkrankung und den bevorstehenden Tod. Auch wenn er bisweilen dafür kritisiert wurde, psychiatrische Leiden allzu idyllisch zu schildern: Bedenkt man die furchtbaren Zeiten, in denen Oliver Sacks zu schreiben begann - Zeiten, in denen Psychiatrien Zuchthäusern glichen - kann sein Beitrag zur Entstigmatisierung psychisch Kranker kaum hoch genug geschätzt werden.

Programmtipp: Zum Tod von Oliver Sachs hören Sie in der Sendung "Fazit" ab 23:05 Uhr ein Interview mit Cornelius Bock, Professor und Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Lübeck

Mehr zum Thema