Zum Tod von Frank Schirrmacher

Der Erregungstechniker

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher starb im Alter von 54 Jahren
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher starb im Alter von 54 Jahren © dpa / picture-alliance / Fredrik von Erichsen
Jens Jessen im Gespräch mit Joachim Scholl · 13.06.2014
Mit Frank Schirrmacher zu arbeiten sei wie ein "Leben auf Droge" gewesen, erinnert sich der Journalist Jens Jessen an seine Zeit bei der "FAZ". Der Mitherausgeber habe einen bestechenden Ideenreichtum "in die Bude gebracht".
O-Ton Frank Schirrmacher: "Die These, dass es sich um einen technologischen Vorgang handelt, bei dem, was wir gerade erleben, ist in meinen Augen der größte Bluff der Weltgeschichte. Worüber wir reden ist nicht eine Technologie, sondern wir reden darüber, ob die Kriterien, mit denen diese Technologie jetzt sozusagen geimpft wird, für alle Details unserer Gesellschaft gelten sollen, bestimmte Effizienzkriterien zum Beispiel.
Jede App hat die, jedes Navigationssystem hat die, künftig werden unsere Häuser von denen geprägt sein, unser Zähneputzen, die elektrischen Zahnbürsten, die mit dem Internet verbunden sind. Das ist keine technologische Frage, das ist die Implementierung des Neoliberalismus, des neoliberalen Konzepts auf jetzt die letzten frei gebliebenen Bereiche des menschlichen Lebens."
Joachim Scholl: Frank Schirrmacher über sein letztes großes Thema, der Einfluss der digitalen Revolution auf unser Leben. - Er kann es nicht mehr weiterspinnen. Der Publizist, der Herausgeber und prägende Geist der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ist gestern im Alter von 54 Jahren gestorben.
Am Telefon ist Jens Jessen, Feuilletonchef der Hamburger "Zeit". Schönen guten Morgen.
Jens Jessen: Schönen guten Morgen! - Erlauben Sie mir, es trotzdem kurz zu korrigieren. Ich bin nicht mehr Feuilletonchef der "Zeit", aber ich war es 13 Jahre bis vor kurzem.
Scholl: Verzeihen Sie! In den Turbulenzen der letzten Stunden und der letzten Tage ist ein weniges durcheinandergeraten. So viele Chefpositionen und so viele Kollegen wurden hier .- - Verzeihen Sie! - Herr Jessen, Sie waren acht Jahre Kollege von Frank Schirrmacher, haben im Feuilleton der "FAZ" mit ihm gearbeitet. Was haben Sie gestern als erstes gedacht, als Sie vom Tod Ihres früheren Chefs hörten?
"Es gibt ein Feuilleton vor Schirrmacher und es gibt ein Feuilleton nach Schirrmacher"
Jessen: Na ja, wie man so denkt. Manche Hörer werden es übertrieben finden, aber ich habe das als historischen Moment begriffen und spontan gedacht, wie man das früher gesagt hätte, eine große Leiche. Denn man kann, ohne sehr zu übertreiben, schon sagen, es gibt ein Feuilleton vor Schirrmacher und es gibt ein Feuilleton nach Schirrmacher. In unserem, natürlich vergleichsweise kleinen Biotop hat er eine ungeheure Wirksamkeit entfaltet.
Scholl: Sie sind ungefähr derselbe Jahrgang, Herr Jessen, nur vier Jahre älter. Frank Schirrmacher war ja schon ein Überflieger. Mit ganz jungen Jahren kam er zur "FAZ" und es hat nicht lange gedauert, da hat er Marcel Reich-Ranicki beerbt und wurde dann auch Ihr Chef, Herr Jessen. Wie haben Sie ihn in der Redaktion, im journalistischen Alltag erlebt?
Jens Jessen
Jens Jessen, Ex-Feuilletonchef der Wochenzeitung "Die Zeit"© picture-alliance/ dpa / Steffen Kugler
Jessen: Das war schon lustig. Er kam da an und war so ein kleiner, nicht sehr groß gewachsener, etwas moppeliger, sehr studentisch wirkender junger Mann mit umwerfendem Charme und vielen Ideen, der sofort fest entschlossen war, genau diese Karriere zu machen. Er wollte von Anfang an so schnell wie möglich Reich-Ranicki als Literaturchef beerben und wenig später Joachim Fest als Herausgeber. Das gibt es, diese Art von Zielstrebigkeit, aber es ist doch nicht häufig, dass jemand so etwas ins Auge fasst und auch mit unglaublicher Mühelosigkeit vollzieht.
Er hat eine Spontanität, einen Schwung und einen Ideenreichtum in die Bude gebracht, die wirklich bestechend waren. Dann allerdings zeigte sich, das war ein Teil seines Erfolgs, was später sehr bewundert wurde und dann auch für uns etwas Befremdendes hatte, und das war sozusagen die absolute Bedenkenlosigkeit in dem Zuschnitt des Journalismus auf Wirksamkeit. Er war sozusagen der Erregungstechniker schlechthin. Ich meine damit nicht nur Frequenz oder Lautstärke, sondern er verlegte den Erregungsfaktor in die Themen hinein. Es war ein Ausmaß an Dramatisierung und Pathetisierung, die früher sicher nur bei ganz großen Vorgängen für möglich gehalten worden ist.
Scholl: Aber das muss dann doch den jungen Wilden, zu denen auch Sie gehörten - Gustav Seibt war auch dabei, Patrick Bahners - doch auch gefallen haben. Gustav Seibt hat einmal erzählt, wir konnten denken, herumspinnen wie wir wollten und der Chef hat uns immer angespornt, möglichst verrückt zu sein, das wäre schon cool gewesen.
Jessen: Absolut! - Klar! - Das war sozusagen eine ganz neue Droge und gut, wir waren auch keine Unschuldskinder. In einer weniger raffinierten Form kannten wir diese Droge und hatten mit ihr schon gespielt. Aber das war eben so der Unterschied wie zwischen, sagen wir mal, sehr gestrecktem Kokain und Crack.
Scholl: Das bringt man ja nicht unbedingt mit der Redaktion der "FAZ" zusammen, diese Stimmung.
Gentechnik und digitale Welt
Jessen: Ja. Das ist aber ein Fehler, das nicht zusammenzubringen. - Interessant ist jetzt, wenn man zurückblickt - und dazu wird man ja jetzt gezwungen -, festzustellen, dass diese Droge, die damals neu, relativ neu war, in dieser Konzentration neu war, dann ziemlich bald so etwas wie Standard wurde, und man muss sagen, dass Schirrmacher einer der meist bewunderten, unter Kollegen meist bewunderten Journalisten geworden ist, weil niemand wie er in der Lage war, jenseits des Boulevardjournalismus in diesem Maße die Öffentlichkeit zu bearbeiten und bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen, übrigens Themen, mit denen er, wie ich finde, vollständig Recht hatte, sie groß zu machen: seinerzeit die Gefahren der Gentechnik und dann später und bis zuletzt in zwei Büchern das Problem der digitalen Welt und ihrer Manipulationen.
Scholl: In Memoriam Frank Schirrmacher - wir sind im Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur mit Jens Jessen von der Hamburger "Zeit". - Stichwort Paradigmenwechsel, Herr Jessen, im Feuilleton. Er hat eigentlich ja erkannt, hat man gesagt, dass die Wissenschaft eigentlich jetzt die Leitfunktion hat, die Naturwissenschaft, und hat dann konsequent auch das Feuilleton in diese Richtung gebaut. Spektakulär war ja im Jahr 2006, als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gemeldet wurde: Die "FAZ" druckte im Feuilleton die komplette Genomsequenz. Jakob Augstein hat das mal vollkommen sinnlos und unendlich bedeutungsvoll genannt. Wie haben Sie das damals wahrgenommen?
Jessen: Ja, ja, so kann man das ausdrücken. Ich würde sagen, das ist sozusagen der Triumph des Performativen über die Semantik. So ein Bruchstück einer Genomsequenz abzudrucken, sagt ja dem Leser überhaupt nichts, ist aber eine ganz, ganz starke Geste. Das ist wahrscheinlich, kann man sagen, das Urbild dieser Art von Journalismus, zunächst mal ein Gefühl von Bedeutung und Pathos zu erzeugen. Das muss zunächst nicht begründet oder unterfüttert werden.
Scholl: Es gab eine spektakuläre Revolution in der "FAZ", als nämlich ein quasi ägyptischer Auszug passierte. Elf Redakteure verließen gleichzeitig die Redaktion und, Herr Jessen, Sie marschierten vorne weg. Was war da los?
Jessen: Na ja, es waren nicht elf auf einmal. Es waren zwei Wellen. Ich weiß nicht, wie groß der Abstand dazwischen war, zwei Jahre oder so, zwei oder drei Jahre. Ich weiß es nicht genau. Die erste dieser Wellen führte zur "Berliner Zeitung" und von dort zerstreuten sich dann die Leute.
Scholl: Aber warum, Herr Jessen? Warum sind sie alle plötzlich von der Fahne gegangen, wenn es doch so cool war?
Jessen: Na ja, es gibt auch Alkoholiker, die selber beschließen, wieder trocken zu werden. Es war zu viel. Diese Art von Drogenkonsum verletzte dann doch wesentliche Seriositätsvorstellungen, die wir dann hatten. Man darf nicht vergessen das eigentlich goldene Zeitalter, was in unserer Wahrnehmung bei der "FAZ" zu erleben war, das unter Joachim Fest war. Und der Aufstieg Schirrmachers vollzog sich auch unter Joachim Fest.
Scholl: ... , mit dem er ja dann aber auch irgendwann gebrochen hat, indem er von der doch konservativen Linie wegging. Aber es war dann so, wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Jessen, dass sozusagen der Stil, dieses eher Performative und das Aufregende, dass dann das Ihnen intellektuell doch jetzt ein bisschen anrüchig erschien und Sie sagten, wir wollen das doch anders haben?
Furcht um Seele und Verstand
Jessen: Es schwindelte uns und wir dachten, wenn man die Dosis noch ein bisschen erhöht, führt das in den kompletten Irrsinn. So kann man das eigentlich sagen. Wissen Sie, es liegt lange zurück. Es ist gar nicht mehr so einfach, mich in die Stimmungslage hineinzuversetzen. Aber ich würde mal sagen, wir fürchteten dann doch um Seele und Verstand.
Scholl: Eigentlich kam er ja von der Literatur her, Frank Schirrmacher, hat sich dann publizistisch relativ rasch davon entfernt - man sagt, er hätte sich auch gelangweilt -, ist dann auf diese Felder gegangen, in denen er dann auch überaus erfolgreich als Buchautor war: Über die alternde Gesellschaft mit seinem "Metusalem-Komplex", die Auflösung von Familienstrukturen, über den Finanzkapitalismus, ein Buch, das überraschend marxistisch ausfiel, zuletzt jetzt "EGO" über die Auswirkungen des Internets. Wie haben Sie als ehemaliger Kollege auch Frank Schirrmacher, diesen gesellschaftskritischen Autor wahrgenommen?
Jessen: Ja, weniger überrascht, als Sie das jetzt schildern. In all diesen Büchern waren seine Lieblingsthemen enthalten. Oder sagen wir es umgekehrt: Ich kannte die Bücher als Keimzelle schon aus seinen Gesprächen und Überlegungen. Manche hatten auch einen direkten Vorlauf in seiner publizistischen Tätigkeit. Die Zukunftssorge war ein großes Thema für ihn und auch wenn ich vielleicht nicht jede Zuspitzung teile, würde ich sagen, das sind extrem intelligent und wach gesetzte Themen. Man kann in jedem Punkt dann höchstens über den Grad der Pathetisierung streiten.
Scholl: Die publizistische Öffentlichkeit ist jetzt allseitig respektvoll erschüttert. Ständig fallen Thomas Mann Zitate, weil er natürlich ein großer Thomas Mann Leser war. "Auch der große Mann ist ein Verhängnis" wird jetzt gern lustvoll zitiert. Der Tenor der Nachrufe lautet aber schon, so einen gab's selten, so einer kommt so schnell nicht wieder. Sind Sie auch der Ansicht, Herr Jessen?
Jessen: Ja, sicher, sicher, sicher. Es ist ja auch die Frage, welches Maß an Obsessivität jemand aufbringt und welches Maß an Obsessivität übrigens auch eine Institution duldet. Sie würden vielleicht sagen oder ich gewiss als Journalist, dass, wenn ein Thema einmal oder ein bis zweimal die Woche auftaucht, es ausreicht und alles andere den Leser nervt oder vielleicht ihm das Gefühl gibt, er wird jetzt agitiert. Solche Art von Hemmungen oder Ausgewogenheitsvorstellungen kannte Schirrmacher überhaupt nicht. Wenn er Kampagnen fuhr, um bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen, dann hat er sozusagen skrupellos rund um die Uhr gesendet in maximaler Lautstärke, und dafür braucht man auch ein ganz bestimmtes Temperament, um so was gern zu haben, und ich glaube nicht, dass das oft entsteht.
Scholl: Frank Schirrmacher zum Gedenken - gestern ist der Journalist und Autor überraschend gestorben. Wir haben Jens Jessen gehört von der Hamburger "Zeit". Recht schönen Dank Ihnen, Herr Jessen.
Jessen: Ja, gern! Es war mir ein Vergnügen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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