Zum Sterben nach New York

Rezensiert von Gertrud Lehnert · 15.03.2006
Der neue Roman von Paul Auster erzählt die Geschichte eines 59-Jährigen, der nach einer Krebsdiagnose zum Sterben nach New York geht. Doch aus dem geplanten einsamen Lebensabend wird nichts, stattdessen entwickelt die Hauptfigur Freude am Leben und trifft auf neue Menschen, die ihm zu echten Freunden werden. Austers neuer Roman überzeugt durch eine hohe Dichte verschiedenster Themen - von Krankheit und Tod über Lebenskrise und Betrug bis zu Sekten und Drogensucht.
"Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. Jemand empfahl mir Brooklyn ..." - was für ein furioser Romanauftakt! Paul Austers neuer Roman erzählt die Geschichte des 59-jährigen Nathan Glass, der nach dem Scheitern seiner Ehe und der Krebsdiagnose "wie ein verprügelter Hund" an den Ort seiner frühesten Kindheit zurückkehrt.

Am Ende ist er noch immer quicklebendig, und aus dem geplanten Einsiedlerleben ist ein Leben in engen sozialen Bezügen geworden. Ein Griesgram hat sich zu einem Menschen gewandelt, der sich am Leben freut.
Dazwischen liegen erstaunliche und banale Ereignisse, nicht zuletzt der Plan eines großen Betrugs, in den Nathan nur am Rande involviert ist. Fast wird der Roman an der Stelle zum Kriminalroman. Aber letztlich bleibt das Episode, und der Fluss der ansonsten gar nicht so spektakulären Ereignisse geht einfach weiter.

Es beginnt damit, dass Nathan eines Tages rein zufällig seinen lang verschollenen Neffen auf der Straße trifft. Der hat sein Studium geschmissen und arbeitet nun im Antiquariat von Harry Brightman. Die drei freunden sich an und erzählen sich ihre Geschichten: Harry die seiner gescheiterten Ehe und seiner betrügerischen Vergangenheit, Tom die seiner verschollenen Schwester. Nur Nathan erzählt nicht viel. Seine erzählerischen Qualitäten schlagen sich in seinem Buchprojekt nieder:

Er schreibt sämtliche Missgeschicke, Blamagen, Peinlichkeiten nieder, die ihm oder anderen passiert sind: "Das Buch menschlicher Torheiten".

Wohl nicht zufällig erinnert das an das Projekt des großen französischen Realisten Gustave Flaubert, ein "Wörterbuch der Gemeinplätze" zu verfassen; und wohl nicht zufällig beklagt Nathan zu Beginn des Romans mehrfach, dass seine Ex-Frau sowie seine Tochter sich fast nur in Gemeinplätzen ausdrücken.

Harry entwickelt die Idee, zusammen mit seinem Ex-Geliebten eine Fälschung des verschollenen Manuskripts von Nathaniel Hawthornes "Scarlet Letter" zu produzieren und teuer zu verkaufen. Das würde allen dreien die Realisierung ihres gemeinsam Traums vom Rückzug aus der Alltagswelt (sprich: ein gemeinsames Wohnprojekt) ermöglichen. Nathan ist dagegen, aber er ist auch fasziniert. Nur soviel sei verraten: Das Ganze geht schief. Aber das Leben geht trotzdem weiter, jedenfalls für die meisten der Figuren.

Eines Tages steht Toms neunjährige Nichte vor der Tür, die Tochter seiner verschollenen Schwester. Nach langem Suchen wird diese Schwester auch wiedergefunden, in den Fängen einer Sekte. Auch hier könnte aus dem Roman ein Kriminalroman werden, und erneut widersteht der Erzähler der Versuchung. Er bleibt bei seiner Familien- und Selbstfindungsgeschichte. Und das ist gut so. Die spektakuläreren Ereignisse behalten ihren relativen Stellenwert innerhalb eines ganz normalen Lebens, statt, wie im Krimi, zum zentralen Ereignis zu werden, vor dem alles andere verblasst.

Das Ineinanderschachteln vieler Geschichten ist ein alter Trick, um mehr erzählen zu können, als ein einziges Leben hergibt, oder um viele Leben an einem strategisch wichtigen Punkt zusammenzuführen. Auster gelingt das gut.

Es gelingt ihm auch, die Geschichte seines Helden so zu erzählen, dass sie glaubwürdig und niemals langweilig ist. Interessanterweise bleibt Nathan selbst als Figur blasser als die anderen Figuren (Tom, Harry, das kleine Mädchen), die er doch nur spiegelt.

Zwar stopft Auster ein paar Themen zuviel in seinen Roman — Lebenskrisen, Ehescheidung, Altern, Krankheit, Tod, vielerlei Arten von Betrug, die Frage nach dem "richtigen" Leben, Sekten, Drogensucht ... Sogar eine lesbische Beziehung entwickelt sich am Ende, ohne eine echte Rolle zu spielen, wie überhaupt viele der angesprochenen Motive (auch das Buch menschlicher Torheiten) so genannte blinde Motive sind, also keine tragende Rolle für den Plot spielen.

Der Autor will offenbar unbedingt politisch korrekt sein und zugleich Lebensfülle evozieren. Dass der Roman am 11. September endet, scheint mir beispielsweise auch überflüssig, denn es fügt ihm nichts Wesentliches hinzu. Und dass der Eindruck erweckt wird, als gehe es um die Bildung freiwilliger sozialer Gemeinschaften, also um alternative Lebensformen, von denen in letzter Zeit so oft die Rede ist, finde ich ein bisschen ärgerlich, da es letztlich ganz traditionell um die Zusammenführung einer versprengten Familie geht.

Der Roman entpuppt sich mithin als Hohelied auf familiäre Werte. Ungeachtet dieser Kritik: Auster versteht, wie immer, seine Geschichten so zu erzählen, dass sie überzeugen und fesseln. Ein gelungener und lesenswerter neuer Roman!


Paul Auster: Die Brooklyn-Revue.
Deutsch von Werner Schmitz
Reinbek (Rowohlt) 2006, 351 Seiten