Zum 90. Geburtstag Michel Foucaults

Wie die Gegenwart den Star-Denker widerlegt

Michel Foucault
Undatiertes Porträt des französischen Philosophen und Schriftstellers Michel Foucault. © picture alliance / dpa / Foto: afp
Von Arno Orzessek · 12.10.2016
Vor 90 Jahren wurde Michel Foucault geboren, sein bahnbrechendes Werk erschien 1961: "Wahnsinn und Gesellschaft". Im Zeitalter der Vernunft, diagnostizierte er, werde der Wahn durch rationale Kontrolle zum Schweigen gebracht. Eine Überprüfung.
Soweit bekannt, hat sich Donald Trump niemals gründlich über die Schriften von Michel Foucault gebeugt.
Deshalb dürfte der republikanische US-Präsidentschaftskandidat gar nicht ahnen, dass er in mancher Hinsicht als leibhaftige Widerlegung des französischen Star-Denkers gelten kann.
Und das verbindet Trump mit vielen ... sagen wir es ungeschützt ... borderline-ernden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte.
Uns würden da von Recep Tayyip Erdogan bis Björn Höcke und von Pim Fortuyn bis zum abgelegten Silvio Berlusconi eine Menge Leute allein in der politischen Sphäre einfallen.

Vernunft plus eine Dosis Wahnsinn

Ihre Gemeinsamkeit? Sie alle kennzeichnet ein selektiver Gebrauch der handelsüblichen Vernunft plus eine Dosis von dem, was umgangssprachlich als Wahnsinn bezeichnet wird.
Überhaupt tritt man der Gegenwart keineswegs auf die Füße, wenn man feststellt: So irre wie heute ging's im Politischen selten zu, jedenfalls seit dem Abgang der totalitären Ideologien.
Dieser prekäre Umstand ist mit prominenten Thesen Foucaults bezüglich der allgegenwärtigen Normierungsmacht indessen schwer vereinbar.
In "Wahnsinn und Gesellschaft", seinem intellektuellen Raketenstart von 1961, behauptete Foucault:
Die neuzeitlich-abendländische Rationalität ist so potent und zugleich so autoritär und repressiv, dass sie missliebige Abweichungen stets als Wahnsinn ausgrenzen, disziplinieren und zum Schweigen bringen kann.
Foucault fand das übrigens nicht so toll. Aber sei's drum: Offenbar ist die Rationalität ohnehin weniger omnipotent, als er glaubte.
Tatsächlich gehen ja zwei furchterregende Gespenster um, die der Rationalität eine lange Nase ziehen. Das ältere heißt Populismus. Das jüngere ist die postfaktische Politik, in der Emotionen, Ressentiments, wilde Freund-Feind-Konstrukte und blanker Unfug triumphieren. Was hier ausbricht, pfeift auf die Autorität der Vernunft.
In "Überwachen und Strafen" hat sich Foucault 1975 erneut sehr weit aus dem Fenster gelehnt.
Am Ende der Untersuchung moderner Strafsysteme mokierte er sich über das "Kerkergewebe der Gesellschaft". Es soll, als zivile Variante des Gefängnis', jedermann durch totale Überwachung disziplinieren und am Ausbrechen aus dem Normen-Gefüge hindern.
Im zivilen Leben lässt sich die kerkerhafte Kontrolle à la Foucault zwar in Teil-Segmenten nachweisen, keineswegs aber flächendeckend. Die normierende Macht, Foucaults säkulare Gottheit, die angeblich in jeder Ritze waltet, befördert Anpassung und Unterwerfung - das schon. Aber allmächtig ist sie nicht.

Übertretung avanciert zur neuen Norm

Warum kam es denn zum Brexit-Votum? Warum haben Banker mit Staatshaushalten Roulette gespielt? Warum zieht Pegida durch die Straßen? Und warum sprengen sich Menschen samt anderen Menschen in die Luft, auch mitten in Europa?
Kurz: Warum kommt es zu mehr oder minder fundamentalen Regel-Brüchen?
Doch wohl, weil es zahllose – und nicht immer negative - Formen von Eigensinn gibt, die gegen Disziplinierung und Normierung resistent sind.
Mit Blick auf den Aufruhr, den wir Gegenwart nennen, scheint es vielmehr, als ob sich Foucaults Ordnung der gesellschaftlichen Dinge umkehrt. Spielarten des Wahnsinns schicken sich an, Vernunft und Disziplin als missliebige Abweichungen auszugrenzen. Die Übertretung aber avanciert zur neuen Norm.
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