Zum 60. von Nigel Kennedy

Improvisationskunst vom Klassik-Punker

Nigel Kennedy
Der britische Violinist Nigel Kennedy im Konzert beim festival Kultur im Zelt in Braunschweig mit seinem Programm "Nigel Kennedy plays Jimi Hendrix". © imago/Susanne Hübner
Von Philipp Quiring · 28.12.2016
Sein Irokesenschnitt und seine gefärbten Haaren brachten ihm den Beinamen "Punkgeiger" ein. Das Haar ist mittlerweile etwas dünner geworden, seine gegen den Strich gebürstete Art ist geblieben. Zu seinem 60. Geburtstag hat sich Nigel Kennedy selbst beschenkt.
"Ich hatte so vor 20 Jahren das Gefühl, dass ich Musik schreiben möchte. Ich hatte eine Menge Ideen, aber ich war so sehr damit beschäftigt, die Musik anderer Leute zu spielen, dass ich einfach nie die Zeit hatte, mich hinzusetzen und eigene Sachen zu schreiben. "
So Nigel Kennedy. Hat der Geiger in der Vergangenheit bereits ein paar Eigenkompositionen veröffentlicht, erschien nun kurz vor seinem 60. Geburtstag mit "My World" ein Album mit reinen Eigenkompositionen. 13 eigene Kreationen, deren Entstehung gar nicht immer so einfach war.
"Ich brauche zum Komponieren mein Klavier. In einigen Hotels gibt es zwar Klaviere, und wenn ich dann eine Idee hatte, dann war das ein Anfang. Aber es ist immer schwierig, wenn ich auf Tour bin. Aber irgendwie richte ich es dann doch immer ein, neue Sachen schreiben zu können."
Als Ziehkind von Yehudi Menuhin entwickelte sich Kennedy zu einem der erfolgreichsten Geiger der Klassikwelt. Seine Einspielung von Vivaldis Vier Jahreszeiten stand über ein Jahr auf Platz eins der britischen Klassikcharts und wurde mit über drei Millionen Exemplaren zum meistverkauften Klassik-Album aller Zeiten. Von der klassischen Musik hat sich Kennedy immer wieder entfernt. Lange vor David Garrett trieb es ihn mit der Geige in den 90er-Jahren in popularmusikalische Sphären. 1997 gründete er seine Band "The Kennedy Experience", spielte Musik von Jimmy Hendrix. Musik, die Kennedy begleitet hat und die er besonders schätzt, nimmt Einfluss auf die Stilistik seiner eigenen kompositorischen Sprache, die er vom Klavier ausgehend improvisatorisch entwickelt.

"Wenn ich eine gute Idee habe und mich am nächsten Tag auch noch an sie erinnere, dann bringe ich da noch mehr Struktur rein. Das fängt in der Regel mit Melodie und Harmonie an, und von diesen zwei Faktoren ausgehend, von diesen zwei Zutaten, denke ich dann darüber nach, wie ich das instrumentieren könnte: Möchte ich es für ein Orchester schreiben, für ein kleines oder ein großes Ensemble? Aber am Anfang steht zunächst hauptsächlich die Melodie."

Beeinflusst von Dorothy DeLay und Yehudi Menuhin

Melodien wie in "Fallen Forest – Für Isaac Stern", die Nigel Kennedy musikalischen Persönlichkeiten widmet, die ihn besonders prägten. Persönlichkeiten auch aus dem Jazz-Bereich wie Stéphane Grapelli, der Kennedy als 16-Jährigen in Improvisation schulte. Er gehört neben Dorothy DeLay und Yehudi Menuhin zu den drei Personen, die Kennedy als große Lehrer-Persönlichkeiten anführt. Isaac Stern war dabei während der Zeit an der Yehudi Menuhin-School lange Zeit sein Lieblingsgeiger.

"Menuhin und Stern haben sich aber eigentlich nicht gemocht. Sie waren ziemlich gegensätzlich, weil Isaac Stern eine starke zionistische Persönlichkeit war, und Yehudi Menuhin mehr wie der Palästinenser in Israel: ´Jeder ist gleich.` Also waren sie komplett diametrisch, gegensätzlich im ideologischen Sinne. Es kam in der Yehudi Menuhin-Schule nicht so gut an, dass Isaac Stern mein Lieblingsgeiger war. Ich wurde von seiner Musik angesteckt – von den Turntables –, zu dieser Zeit noch Vinyl. Er war eine große Inspiration, weil er ein wahrhaftiger Musiker war. Keine Allüren oder so ein Quatsch – es war einfach wunderbar, ihn so spielen zu hören."
Für das Yehudi Menuhin gewidmete Stück "Solitude" wählte Kennedy eine sehr eingängige Melodik. Neben der politischen Sichtweise charakterisiere Menuhin vor allem "eine Art Leben außerhalb des geschlossenen Kreises der Musik" – so Kennedy.

"Er war eine sehr idealistische Person. Bei seinen Denkprozessen in Bezug auf die musikalische Herangehensweise kam es häufig vor, dass er außer sich war. Er kompensierte das mit Yoga und östlicher Philosophie. Er war damals schon anders: Heute liebt jeder Indien. Aber als er Indien entdeckte, kannte es noch keiner so richtig – abgesehen von den Briten, die es besaßen. Heutzutage besitzt Indien unsere Autofirmen, und sie übernehmen all unsere Call-Center. (lacht) Wir sind ein Teil des indischen Imperiums."

Die Musik aus der Feder Nigel Kennedys zeigt seine musikalische Entwicklung bis in die Gegenwart, seine Entwicklung weitestgehend weg von der Klassik hin zu der genreübergreifenden Verknüpfung von Balkan Sounds, jüdische- und Folk-Musik, mit Marvin Gaye- und Jazz-Einflüssen. Die Widmungen der Stücke an seine Lehrer sowie an den polnischen Jazzgitarristen Jaroslaw Smietana oder den US-amerikanischen Geiger und Fiddlespieler Mark O’Connor lassen dabei zahlreiche Rückschlüsse zu. Nigel Kennedy, ein Alt-Meister, der sich intonationsmäßig nicht immer den perfektionistischen Ansprüchen der Klassik verpflichtet fühlt, sich mit seiner musikalischen Freiheit, seinem stilübergreifenden Denken und seinem Sinn für Improvisation weiterhin als großer Musiker zeigt.

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