Zum 40. Todestag

Hannah Arendts erster Lyrikband erschienen

Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt
Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt schrieb auch Gedichte. © picture alliance / dpa
Von Volkhard App · 03.12.2015
Jahrzehntelang hat Hannah Arendt Gelegenheitsverse zu Papier gebracht. Sie handeln von der Liebe und sind vielleicht keine große literarische Entdeckung. Aber sie verraten ein Gefühl der Verunsicherung und der universellen Einsamkeit dieser eigenwilligen Denkerin.
Arendt: "Was für mich wesentlich ist: ich muß verstehen, und wenn andere Menschen verstehen im selben Sinne, wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl."
Und zu diesem "Verstehen", zu Dialog und Selbstverständigung, gehörte offenbar das Schreiben von Gedichten. Dass Hannah Arendt jahrzehntelang Gelegenheitsverse zu Papier gebracht hatte, war Fachleuten zwar bekannt, doch einem größeren Publikum werden sie jetzt erstmals in einem eigenen Band ("Ich selbst, auch ich tanze") vorgestellt: sämtliche erreichbaren Gedichte, die in Briefen und in ihrem "Denktagebuch" aufgetaucht sind.
Von der Liebe handeln sie, verraten aber auch ein Gefühl der Verunsicherung und der universellen Einsamkeit, sind jedenfalls melancholisch grundiert. Immerhin, der trostlosen Vergänglichkeit kann der Mensch etwas entgegensetzen:
"Ein Mädchen und ein Knabe
Am Bach und im Wald,
Erst sind sie jung zusammen,
Dann sind sie zusammen alt.
Draußen liegen die Jahre
Und das was man Leben nennt,
Drinnen wohnt das Zusammen,
Das Leben und Jahre nicht kennt."
Mit dem jetzt im Piper Verlag publizierten Buch lässt sich das lyrische Werk von Hannah Arendt gut überschauen und bewerten. Irmela von der Lühe, die das Nachwort verfasst hat:
"Wir wissen, dass sie zwischen 1922/23 und 1926 offenbar regelmäßig Gedichte geschrieben hat. Schon das steht im Zusammenhang mit der Liebesbeziehung zu Martin Heidegger. Überliefert sind dann viele Gedichte aus der Zeit zwischen 1942 und 1961. Die Anlässe waren in der ersten Phase offenbar rein privater, subjektiver Natur. Die Gedichte, die wir dann seit 1942 kennen, sind solche, die beispielsweise auf den 2. Todestag von Walter Benjamin reagieren und auf den Tod des Schriftstellers Hermann Broch."
Keine politischen Gedichte
Manche Verse siedeln an der Grenze zum Kitsch, waren aber auch nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Oder sie sind mit ihren sperrigen Bildern schwer zugänglich – ohne jedoch experimentell zu sein. Mit den theoretischen Stoffen Arendts kommen sie selten in Berührung, es sind keine politischen Gedichte im engeren Sinn:
"Das hätte nahe gelegen, aber ich glaube, dass ihr Verständnis von Dichtung und Kunst in dem Sinne nicht politisch war wie ihr politisches Denken, das sich herschreibt von dem Anspruch, Politik neu zu verstehen, zumal aus Anlass und im Horizont des Zivilisationsbruchs."
Eine große literarische Entdeckung sind die Verse Arendts nicht, doch runden sie unser Bild von dieser eigenwilligen Denkerin ab. Und konfrontieren uns am Rande mal wieder mit ihrer Liebe zum NS-nahen Philosophen Martin Heidegger, den sie, die 1933 exilierte jüdische Autorin, auch nach Kriegsende immer wieder aufsuchte. Arendt-Forscherin Antonia Grunenberg:
"Natürlich können wir uns mit unserem Spatzenverstand nicht vorstellen, dass jemand nach einer solchen Katastrophe, die sie selbst, Hannah Arendt, zur Flucht gebracht hat, noch redet mit einem, der in diese Katastrophe verwickelt war, wie kurz auch immer. Das können wir uns nicht vorstellen, aber gelebtes Leben ist etwas anderes."
Für die Leser der kritischen Texte Hannah Arendts bleibt diese innige Beziehung eine bedrückende Tatsache – für die Leser ihrer Studien über totalitäre Staaten oder für die ihres Buches "Eichmann in Jerusalem", das auch heute noch eine Kontroverse wert ist: mit der Darstellung des Täters, der als unreflektierter Handlanger die "Banalität des Bösen" verkörpert haben soll. Politikwissenschaftler Lothar Probst von der Bremer Universität:
"Wir sind ja auch heute wieder konfrontiert mit Verbrechen ungeheuren Ausmaßes. Und da fällt es uns auch manchmal schwer, das als banal zu bezeichnen. Hier ging es darum, wie Eichmann aufgetreten ist, welche Sprache er benutzt hat. Während Viele glaubten, dass er leere Worte spricht, glaubte sie persönlich, dass er leer war – Teil einer Maschinerie, die systemkonform gearbeitet und Menschen konditioniert hat, Dinge zu tun, die sie unter normalen Voraussetzungen nicht tun würden.
Das ist etwas, was wir heute auch beobachten können: diese Entfremdung von Taten, die man begeht, der Verlust von Realität, man bewegt sich in einer eigenen Welt. Das sind für uns heute, in der gegenwärtig Situation, durchaus noch Lehren."
Gut, dass Hannah Arendt auch über die Möglichkeit geschrieben hat, durch politische Diskussion und Übereinkunft mit anderen einen geschichtlichen Neuanfang zu verwirklichen.
Bedeutend ist Arendts Forderung nach politischem Handeln in einer vielfältigen Öffentlichkeit, in der Konflikte zur Sprache kommen und über Positionen und Ziele gestritten werden darf. "Das Wesen von Politik ist Freiheit": auch so ist dieser Satz zu verstehen – und für Sonntagsreden viel zu schade.
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