Zukunftsalmanach 2015/16

Wir werden Verantwortung getragen haben

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der Soziologe Welzer empfiehlt: Einfach mal den täglichen Abfall wiegen und darüber nachdenken, was morgen gestern gewesen sein wird. © picture-alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Martin Tschechne · 17.01.2015
Eine Frage im Futur zwei: Wer werde ich einmal gewesen sein? Im "FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16" stellt der Soziologe Harald Welzer Menschen vor, die kreative Abfallverwerter geworden sein oder Reparaturzentralen gegründet haben werden.
Unter allen Konzepten von Zeit ist Futur zwei das vertrackteste. Es ist die Form für die Vergangenheit der Zukunft, für das, was morgen gestern gewesen sein wird. Es umfasst also – einerseits – die Kühnheit einer jeden Vorhersage: Wer weiß schon, was morgen sein wird, geschweige denn, in einer ferneren Zukunft? Und es fügt – andererseits – dieser Kühnheit noch etwas hinzu, was eigentlich ihr gerades Gegenteil ist, nämlich die Gewissheit des Gewesenen. Etwas wird gewesen sein.
Klingt wie eine Marotte, hat aber seinen Zweck. Denn aus der Idee, die Zustände der Zukunft so sicher zu erfassen wie etwas, was längst geschehen ist, ergibt sich eine moralische Dimension: die Forderung nämlich, zu einer Entwicklung Stellung zu beziehen; zu beurteilen, ob ein künftiges Tun richtig oder falsch ist – Pardon: richtig oder falsch gewesen sein wird.
Wer sich also ins Futur zwei wagt, so erläutert der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer den Grundgedanken seines in Berlin ansässigen Instituts, das eben diesen Namen trägt, "Futurzwei" – wer sich in dieses Konstrukt einer vollendeten Zukunft wagt, der legt Maßstäbe fest und nimmt sich selbst davon nicht aus.
Welzer: "Ich finde, das ist 'ne wahnsinnig produktive Perspektive. Weil, wir alle werden ja – das ist zwar eine bedauerliche Mitteilung, aber trotzdem unausweichlich – irgendwann mal Bilanz ziehen, wenn man die Gelegenheit dazu hat, das heißt: Wenn das Leben zu Ende geht, schauen Menschen zurück. Und dann schauen sie darauf zurück, wer sie gewesen sind. Und diese Rückschau ist dann manchmal unangenehm. Weil man weit unter den Möglichkeiten geblieben ist, oder weil man einsieht, dass man falsche Prioritäten gesetzt hat, dass man andere Sachen für wichtig gehalten hat, und so weiter. Und in diesem Futur zwei liegt ja im Grunde genommen so etwas wie ein Kunstgriff, dass man, bevor es zu den letzten Dingen kommt, sich schon mal vorstellen kann: Wer will man eigentlich gewesen sein? Was will man eigentlich getan haben?"
Menschen, die sich einen Ruck gegeben haben
Die Ausgangslage ist kritisch; die Botschaft selbst in ihren Details nicht neu. Eine globale Wirtschaft, die an Rohstoffen und Energie das Anderthalbfache dessen verbraucht, verbrennt, verproduziert, was auf lange Sicht vorhanden ist, die mit ihren Rückständen und Abfällen in ähnlichem Ausmaß die Grenzen dessen überschreitet – überstrapaziert, was der Planet auf gar nicht mal allzu lange Sicht ertragen kann: Eine solche Wirtschaft ist nicht zukunftsfähig.
Das Kulturmodell der westlichen Moderne gehe seinem Untergang entgegen, stellt Welzer denn auch illusionslos schon in seinem Vorwort fest. Die Politik habe ihre Gestaltungsmacht weitgehend abgegeben. Die Macht der Konzerne, die systematische Schwächung demokratischer Institutionen, lückenlose Überwachung, eine blindwütige Wachstums-Gläubigkeit, Konsumismus als billiger Ersatz für Mitsprache, für Freiheit, das demütigende Dasein als Diener von Produkten – in seiner Zustandsanalyse, seiner Analyse der Gegenwart, lässt der Zukunfts-Designer Welzer wenig Raum für Optimismus.
Und trotzdem! Gerade darum geht es in dieser 540 Seiten starken Sammlung von Modellen und Alternativen: um eine Zuversicht, die zugleich trotzig und lebensfroh ist, die dem Martin Luther zugeschriebenen Wort vom Apfelbäumchen folgt, das zu pflanzen wäre, selbst wenn morgen die Welt untergeht. Oder der großen Ermutigung, mit der Mark Twain das Konzept einer Gegenwart vorwegnahm, die sich gegenüber der Zukunft zu verantworten hätte:
Zitat Mark Twain: "In 20 Jahren wirst du mehr Reue empfinden über Dinge, die du nicht getan hast, als über solche, die du getan hast. Also wirf die Leinen und segle aus deinem sicheren Hafen. Fange den Wind in deinen Segeln! Forsche! Träume! Entdecke!"
Und dann kommen die Beispiele von Menschen, die genau das getan haben: forschen, träumen, entdecken, handeln. Die sich einen Ruck gegeben und vielleicht an der Frage orientiert haben: Wer werde ich einmal gewesen sein?
Knapp hundert solcher Geschichten sind es – von Witz und Widerstand, von David gegen Goliath, von Produktionsgemeinschaften und kreativen Abfallverwertern, von Bürgerforen und Lebensmittel-Kooperativen, von Textilunternehmern, die eben nicht in Drittweltländern produzieren lassen und ihren Arbeitern trotzdem faire Löhne zahlen können. Und von einer Kontaktbörse ist zu lesen, in der Landwirte einen Nachfolger für ihren Hof finden können.
Die vollendete Zukunft wird in Geschichten erzählt
Welzer und seine rund 25 Co-Autoren erzählen von Reparaturzentralen und Tauschbörsen, von Verkehrsbetrieben, die auf umweltneutrale Busse umsteigen. Eine Gruppe muslimischer Techniker hat auf dem Dach ihrer Moschee Sonnenkollektoren installiert und für die nachhaltige Form der Energiegewinnung sogar eine Begründung aus dem islamischen Glauben hergeleitet. Und Banken schaffen es, ihren Kunden zwar ganz normale Firmen-Kredite zu geben, sie aber trotzdem nicht unter Wachstumsdruck zu setzen. Es sind Geschichten aus dem wirklichen Leben, aber doch irgendwie ganz anders.
Der Unterschied liegt in ihrer Dramaturgie. Es ist eine Struktur, die selbst kühne Projekte seltsam vertraut erscheinen lässt. Das liegt an ihrer Erzählform. Die Feldforscher präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit in erklärter Absicht als Geschichten – genau so, wie es die Menschen schon vor Urzeiten am Lagerfeuer getan haben, genau so, wie sich ein Ereignis in der Wahrnehmung sortiert und sich Erlebtes im Gedächtnis festsetzt. Da spielen Personen eine Hauptrolle, und ihre Impulse, Entschlüsse und Handlungen sind es, die den Lauf der Dinge in Bewegung setzen, ihn Tempo gewinnen und zu einem Ergebnis kommen lassen.
Welzer: "Geschichten werden ja radikal unterbewertet. Informationen werden radikal überbewertet. Ja, man glaubt ja – und davon ist die ganze Wissenschaft beseelt –, dass es nur darauf ankäme, die tollen Informationen an die Leute zu bringen, dann würden sie schon irgendwie handeln. Pustekuchen! Alle Leute wissen alles und machen trotzdem das genaue Gegenteil davon. Während Geschichten was ganz anderes sind. Geschichten sind seit ein paar zehntausend Jahren das Medium, in dem wir uns selber verstehen, und in dem wir die anderen verstehen, und in dem wir die Welt verstehen. Und insofern ist es immer eine sehr starke Sache, eine Geschichte zu erzählen, weil die immer etwas beinhaltet, in das man sich möglicherweise auch einschreiben kann, einfinden kann, womit man sich identifizieren kann.
Genau da liegt der Unterschied zwischen Futur und Futur zwei: Die Zukunft lässt sich in Zahlen abbilden; das macht Eindruck und duldet keine Gegenrede. Wenn es so weit ist, erweisen sie sich meist als falsch. Aber danach fragt niemand mehr. Die vollendete Zukunft wird in Geschichten erzählt, und die setzen handelnde Personen voraus, Motive, Bedürfnisse, Ziele. Für den Anfang – als kleinen Weckruf – empfehlen Harald Welzer und seine Mit-Erzähler, einfach mal den täglichen Abfall zu wiegen oder die Kleidungsstücke im eigenen Schrank zu zählen. Meist genügt das schon, um sehr, sehr nachdenklich zu werden.

Harald Welzer / Dana Giesecke / Luise Tremel: FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
544 Seiten, 16,99 Euro

Mehr zum Thema