Zürich-West

Vom Industrieviertel zum Trendquartier

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Blick aus dem 35. Stock des "Prime Tower" in Zürich © picture alliance / dpa / Steffen Schmidt
Von Susanne von Schenck  · 04.07.2016
Zürich-West galt früher als Problemkiez. Jetzt ist es ein Stadtteil im Aufbruch. Wie kein anderes Gebiet hat sich das ehemalige Industriequartier verändert: Wo einst Schiffe gebaut und Motoren zusammengeschraubt wurden, blüht heute die Kunst.
"Wir haben 400.000 Einwohner, wir sind die größte Stadt der Schweiz und wir lieben es, wenn wir Superlative benutzen dürfen."
"Hier hinten ist Kreis 5, das ist einfach ein neues Gebiet, Westside nennt man das."
"Ein Quartier wie dieses, mit diesem Charakter und diesem Masstab, das gab es bisher nicht. Das hätte man sich vor 30 Jahren nicht vorstellen können, dass es so eine Kraft entwickelt."
"Zürich-West hat gegen außen immer noch das Image, dass es sehr trendy ist, aber ich denke, es ist nicht mehr so das kreative Quartier, wie es einmal war."
"Für mich ist das ganz klar im Werden und ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich gar nicht so genau weiß, was es wird, weil es sehr heterogen ist."

In den 80ern begann die Metamorphose

Männer in gut sitzenden Anzügen, mit Aktenkoffer und Smartphone stehen an der Theke des Hotel Rivington. Schnell noch einen Kaffee trinken, bevor es ins Büro geht. Der Barkeeper wirkt professionell reserviert, die Stühle sind trashig, der Kaffee schmeckt.
"Hotel Rivington and Bar, das ist kein Hotel, sondern eine Bar. Ein sehr hoher Raum, am Fuße des Primetower. Hier drinnen erinnert es an die Atmosphäre von New York in den 30er-Jahren, hoher Raum mit Wolkenvorhängen und Holztheke, Lampen, die schummerig leuchten, alte Leuchtschrift noch. Ein Teil der Einrichtung wurde aus New York importiert."
Werner Huber ist Architekt, Redakteur der Schweizer Architekturzeitschrift "Hochparterre" und Mitherausgeber eines Themenheftes zu "Zürich West". Das Wahrzeichen dieses in den letzten Jahren entstandenen Stadtteils ist der "Prime Tower": 126 Meter hoch, 36 Etagen – Zürichs höchstes Gebäude. Vor vier Jahren wurde der schicke, schlanke Turm mit blau-grüner Glasfassade fertig gestellt. Im 35. Stock bietet die Bar "Clouds" den besten Ausblick auf die Stadt: über Gleisfelder, Züge, den See bis zur Alpenkette. Der Espresso kostet dort fünf Franken, ungefähr 4,60 Euro. Unten im Hotel Rivington ist er einen Franken billiger. Dafür ist der Blick auch nicht so schön.
In den 1980er-Jahren begann die Metamorphose vom einstigen Industriestandort zum angesagten Trendquartier. Wo früher Schiffe gebaut wurden, wird heute Theater gespielt, wo einst die größte Molkereiverarbeitung Europas war, sind nun die Zürcher Hochschulen für Künste eingezogen.

Hochwertige, gut durchdachte Architektur

Von der Innenstadt kommend ist der Escher-Wyss-Platz das Eingangstor zu Zürich West, nicht gerade beschaulich, sondern laut, unbehaust, dicht befahren und von Kreuzungen und Tramlinien durchzogen. Auf der Hochstraße darüber donnern Autos über die Hardtbrücke, die auf wuchtigen Betonsäulen steht.
Hans Caspar Escher und Salomon von Wyss waren zwei Industriepioniere, die mit Textilproduktion anfingen und sich später auf Maschinen- und Turbinenbau konzentrierten. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert baute die Escher Wyss AG in dem damals noch als Acker und Weideland genutzten Areal von Zürich West ihre Anlagen, erklärt Barbara Döring, die sich intensiv mit der Geschichte ihrer Stadt beschäftigt hat. Gut hundert Jahre folgte später der Niedergang.
"Große Fabrikanlagen sollten hier entstehen, sind auch entstanden. Nur, das muss man auch sagen, so in den 1980er Jahren hat vor allem die Maschinenindustrie, die hier ansässig war, ist an der wirtschaftlichen Situation zugrunde gegangen. Daher hat man ab 1980, 1990 hier einen ganz neuen Charakter dieses Stadtbezirkes erhalten, zum Teil sind alte Fabrikanlagen zerstört oder sie sind umgenutzt worden."
Das verlassene Viertel zog Künstler, Alternative und Intellektuelle an – ein Prozess, der ähnlich auch in Paris, London oder Berlin zu beobachten war. Und – wie überall – weckten die ungenutzten Flächen und Gebäude auch im dichtbebauten Zürich Begehrlichkeiten.
Seit gut dreißig Jahren befindet sich "Züri West", wie die Einheimischen sagen, in einem Prozess der Transformation. Dabei ist viel hochwertige, gut durchdachte Architektur entstanden.

Erst kamen die Kneipen, dann die Kunst

Zum Beispiel das "Löwenbräu" in der Limmatstraße, die südöstlich vom Escher-Wyss-Platz parallel zum Fluß Limmat verläuft. Bier wird hier schon lange nicht mehr gebraut. Anfangs hatten sich in den leeren Gebäuden Clubs und Diskotheken einquartiert. Inzwischen ist die ehemalige Brauerei zu einem Mekka für Kunstinteressierte geworden, mit zahlreichen Galerien, der Kunsthalle Zürich und dem Migros Museum für Gegenwartskunst. Dahinter äugt ein schwarzer, siebzig Meter hoher, eleganter Bau hervor – mit begehrten Eigentumswohnungen, die allerdings Millionen Schweizer Franken kosten.
"Da haben wir Dreiteilung. Weiß farblich gehört der Kunst und Kultur, der rote Flügel gehört vor allem der Geschäftswelt und der schwarze Keil, das ist der Wohnteil. Es farblich wie funktional abgestimmt."
Zürich-West – alles etabliert, teuer und gentrifiziert? Technopark, Hotels und Wohntürme, die riesige "Puls 5"-Halle, der Turbinenplatz, der 120 Meter lange Schiffbau, eine Dependance des Schauspielhauses – alles ist in den letzten Jahren entstanden, wie auch die Viaduktbögen unter der Eisenbahn mit schicken Läden und der großen Markthalle.
"Zürich-West, das wird jetzt irgendwie vermarktet. Und was haben wir hier? Wir haben neue Häuser, schöne und weniger schöne Häuser. Unten, wo die Menschen laufen, denke ich manchmal, da hat man etwas vergessen. Da ist nichts, es hat jetzt mehr Teer und Beton als früher, die Gestaltung des Raumes, wo die Menschen spazieren und rumgehen, ist für mich schon sehr fragwürdig. Aber das nennt man wohl auf eine Art Aufwertung. Aber kann das Aufwertung sein?"
Fragt sich Tom Rist, Ende vierzig, groß, braunes welliges Haar. Seit zwölf Jahren betreibt er den Musikclub "Helsinki".
"Es war Dezember, melancholisch, feucht, ein bisschen trist. Ich stand am Fluss und dachte, es ist Helsinki hier. Es hat mit der Atmosphäre zu tun gehabt, dass Helsinki entstand."

Das Neue ist meist Mainstream

Das kultige "Helsinki", eine ehemalige Garage, liegt in der Geroldstraße, nahe der großen Gleisanlage der Station Hardtbrücke. Günstige Eintrittspreise, junge Bands, durchmischtes Publikum und die weltoffene Atmosphäre machen seinen Charme aus. Dass in Zürich-West ständig etwas Neues probiert werde, statt auch mal beim Alten, Gewachsenen zu bleiben, findet Tom Rist übertrieben. Das sogenannte Neue sei meist Mainstream, und davon gebe es derzeit viel zu viel.
"Wenn ich das Wort bieder nenne, dann meine ich, dass alles viel braver geworden ist. Das ist die Stimmung in diesem Quartier jetzt. Aber das hat mit dem zu tun, dass jetzt viele Leute hier hinkommen, weil jetzt das angekommen ist bei vielen Menschen. Zürich West ist kein Qualitätsbegriff, sondern ein Marketingbegriff, der etwas suggeriert, dass es hier boomt."
Der "Prime Tower" ist nicht weit von der Geroldstraße entfernt. Aber zwischen der beschaulichen Straße, bekannt für ihre Alternativszene, und dem Hochglanzturm liegen Welten. Auf dem Areal von "Frau Gerolds Garten", einem Gartenlokal, wird Urban Gardening betrieben, es gibt Trödelläden und alte Fahrräder. Aber was unkonventionell-fröhlich wirkt, ist dennoch etabliert, sagt der smarte Fabio, der in einem alten Kellergewölbe Vintage-Möbel und Schweizer Designklassiker verkauft.
"Heutzutage hat man da Rechtsanwälte, die bezahlen eine halbe Million für die Mietfläche, hat solche Läden wie uns, wo man denkt, das sei günstig. Ist es aber nicht, hat sich schon entwickelt, war mal anders."
Karin Rykart, seit zehn Jahren grüne Gemeinderätin in Zürich-West, bestätigt das.
"Ich denke, es ist schon wieder ein bisschen weniger angesagt, einfach, weil es ein bisschen steril geworden ist, es gibt wenige Räume, die noch genutzt werden können für spontane Aktivitäten, was auch immer und die Preise sind relativ hoch. Zürich-West hat nach außen hin zwar das Image, dass es sehr trendy ist, aber ich denke, es ist nicht mehr so das kreative Quartier, wie es einmal war."

50 bis 80 Kilogramm Muscheln mit Pommes jeden Tag

Während die Hardtstraße die Nord-Südverbindung von Zürich-West ist, durchschneidet die Pfingstweidstraße, eine weitere große Achse, den Stadtbezirk in Richtung Ost-West. Dort liegt "Les Halles", eines der Restaurants der ersten Stunde. Der frankophile Christoph Gysi eröffnete es vor zwanzig Jahren in einer alten Lagerhalle. Auch heute noch brummt das Restaurant. Christoph Gysi, im Verein "Kulturmeile Zürich West" aktiv, hat fast nichts am Konzept geändert. Die große Halle mit rustikalen Holztischen und französischem Flair ist mittags genauso voll wie am Abend.
"Wir verkaufen pro Tag zwischen 50 und 80 Kilogramm Muscheln mit Pommes Frites. Das ist der absolute Renner seit zwanzig Jahren. Moules et frites. Wir sind der Muschelkönig der Schweiz, wir sind der größte Muschelkonsument der Schweiz."
Christoph Gysi hat den einst heruntergekommenen Stadtteil als kreatives Trendquartier wie auch als exzessives wildes Partyviertel erlebt – mit allen Vor- und Nachteilen.
"Die Anfangszeit, das war noch die Zeit, als Zürich noch am Heroin litt, der sogenannte Needlepark, der ist im Kreis 5, wir sind ja hier im Kreis 5. Am Anfang hat man hier noch vereinzelt Spritzen herumliegen sehen. Es war auch voller Nachtclubs, es war ziemlich schmutzig, laut, verkotzt. Dann hat die Stadt kooperativ mit den Grundeigentümern das Quartier zu planen begonnen."
12 000 Besucher kommen täglich nach Zürich-West, erzählt Christoph Gysi, früher waren es an den Wochenenden sogar 20.000. Ihm gefällt es, wie sich das Quartier entwickelt hat. Nur: es sollten nicht noch mehr Büros entstehen, die das Viertel zu einer Schlafstadt machen, wohl aber eine Konzerthalle, ein Kongresszentrum, ein Fußballstadion – um neue Besucher anzulocken.
"Touristen machen vielleicht drei Prozent aus, das Partyvolk macht sieben Prozent aus, 28 Prozent kommen für kulturelle Veranstaltungen in den Schiffbau, ins Theater, Musikclubs und, und, und. Der Löwenanteil kommt in Restaurants und Bars zum Essen und zum Trinken, 37 Prozent der Besucher kommen deswegen."

Statt Fahrradständern Parkplätze für Luxuslimousinen

Wohl kaum ein Gebäude in Zürich Zürich-West wird so oft fotografiert wie der Freitagturm - zehn leicht angerostete, aufeinandergestapelte Container ragen in den Himmel, nicht weit vom Prime Tower entfernt. Hier werden die "Freitagtaschen" verkauft, Kultobjekte, die es inzwischen in die Designsammlung des New Yorker Moma geschafft haben. Vor gut zwanzig Jahren starteten Markus und Daniel Freitag in ihrer Studentenbude an der Hardtbrücke mit den ersten selbstgenähten Taschen aus LKW-Planen. Heute werden jährlich gut 400.000 Stück davon hergestellt, erzählt Pascal Dulex, bei "Freitag" Head of Innovation.
"Damals war die Idee, in Zürich das erste eigene Geschäft zu eröffnen, der Wunsch war es dann, das Prinzip des Wiederverwendens, wir nennen das Recontextualisierung, auch auf ein Gebäude anzuwenden. Und so entstand die Idee, das gleiche mit den Modulen des Gebäudes zu machen, gebrauchte Container in Hamburg auszuwählen, nach Zürich zu schippern und da zu verbauen zu einem Turm von 26 Metern Höhe."
Gefertigt werden die Taschen inzwischen in Oerlikon im Norden der Stadt. Weil die Mieten dort noch erschwinglich sind und es größere Flächen gibt, ist "Freitag" dorthin gezogen. Wie überhaupt die Kreativkarawane weiter nordwärts gewandert ist, nach Oerlikon oder Altstetten. In Zürich-West haben sich stattdessen vor allem die Etablierten ausgebreitet - mit moderner Kunst, erlesenem Design, gehobener Gastronomie, teurem Shopping und eleganter Architektur. Das Viertel, so Pascal Dulex, hat sich erneut gewandelt.
"Es gibt ein Symbol, was den Wandel des Quartiers zeigt. Wo beim Ausgang des Bahnhofs Hardtbrücke früher die Fahrradständer waren, da sind heute Parkplätze für die Limousinen der Bankchefs, die man noch nicht mal von Hand anschreiben muss, sondern die über digitale Anzeigen gebucht werden. Das verdeutlicht schon: ein Teil des Quartiers ist ganz klar reserviert für Leute, die erst ein paar Jahre da sind."
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