Zu amerikanisch fürs deutsche Fernsehen

Maya Götz im Gespräch mit Katrin Heise · 08.01.2013
Vor 40 Jahren ging die erste deutsche Ausgabe der Sesamstraße auf Sendung und sorgte unter Pädagogen für Unruhe: Zu schnell, zu unterhaltend und zu amerikanisch sei die Sendung, hieß es. Heute ist die Sesamstraße noch unterhaltsamer geworden, weiß Maya Götz vom Institut für Jugendfernsehen, denn so erreiche sie die Kinder besser.
Katrin Heise: Die "Sesamstraße" - heute vor 40 Jahren lief die erste Folge im deutschen Fernsehen. Maya Götz ist Leiterin des internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen in München. Ich grüße Sie ganz herzlich, Frau Götz!

Maya Götz: Hallo!

Heise: Fernsehen für Kinder, das war '73 ja was ganz Neues. Gerade zwei Jahre vorher war "Die Sendung mit der Maus" gestartet. Das Original der "Sesamstraße", die "Sesame Street", war '69 an den Start gegangen, hatte dann schon Emmy-Auszeichnungen. In Deutschland gab es zum Teil aber heftige Reaktionen. Warum? Woran entzündete sich eigentlich die Kritik?

Götz: Zum einen, also es lief beim "Prix Jeunesse" hier in München, also dem weltweit renommiertesten Kinderfernsehfestival, hat dort auch gewonnen, und da waren die Diskussionen schon sehr heftig. Es ging einmal um das Tempo, denn die Grundidee war ja, was tun wir, um Kindern was beizubringen? Wir benutzen die Methoden der Werbung, das heißt, wir machen ganz kurze Spots, bringen dort bestimmte Worte, zum Beispiel Buchstaben und Zahlen ein und bringen sie so zum Lernen.

Das wurde auch regelmäßig getestet, und das endete aber da drin, dass es eben sehr, sehr schnell, also one, two, three, four, five, six, seven – und dann eben sehr amerikanisch, US-amerikanisch aussah, und das war etwas, was eben sehr gemocht, als innovativ erkannt wurde, aber eben auch sehr diskutiert wurde.

Heise: Würden Sie sagen, deutsches Kinderfernsehen war eher bieder und niedlich?

Götz: Auf jeden Fall! Die "Sendung mit der Maus" ...

Heise: Da war dann zum Beispiel der Oscar in der Tonne zu schlecht gelaunt, beispielsweise auch?

Götz: Ja, es war aber weniger der Oscar, der ein Problem war, sondern es war wirklich das Tempo, und natürlich, schwarze Menschen war seinerzeit für uns ein Thema, das uns scheinbar überhaupt nichts anging. Also es ging auch um Diversität, wo man das Gefühl hatte, nee, das hat hier mit Deutschland überhaupt nichts zu tun.

Heise: Sie wollten gerade was mit der "Sendung mit der Maus" sagen, also wegen der Geschwindigkeit?

Götz: Ja, auch die "Sendung mit der Maus" war ja etwas, was eigentlich gar nicht hätte seinerzeit stattfinden sollen. Es war die Zeit, wo man sagte, Kinder unter sechs dürfen auch nicht ins Kino und sie dürfen natürlich auch gar kein Fernsehen gucken. Rein faktisch haben sie natürlich das Programm geguckt, und zwar das am Vorabend, das um die Werbezeit herum. "Ein Colt für alle Fälle" ...

Heise: "Bonanza" ...

Götz: ... genau, diese Dinge. Und da war eben die Frage, was kann man für Kinder tun, wenn man doch eigentlich gar kein Vorschulfernsehen machen kann. Und deswegen kam diese Sendung mit der Maus eigentlich verbotenerweise auf den Markt und griff eben dieses Moment von Journalismus auf, also erklärte die Welt. Damit konnten wir Deutschen ganz gut leben, aber nicht mit etwas, was eben offensichtlich Unterhaltung ist, was lustig ist und was dann auch noch so schnell daherkommt.

Heise: Das finde ich interessant, was Sie sagen: Also wir wollten hier in Deutschland also die Bildung, das Bildungsfernsehen durchaus für die Kinder oder gewöhnten uns langsam an den Gedanken, aber die Unterhaltung war uns ein bisschen zu viel. Im selben Jahr, '73 im September, ging dann ja beispielsweise die "Rappelkiste" auf Sendung. Das war ja doch eine sehr aufgedrehte deutsche Sendung, sehr anarchisch. Ich kann mich noch gut an diese schrillen, frechen Puppen erinnern. Hatte da die "Sesamstraße" sozusagen schon ein kleines bisschen eine Wandlung in Gang gesetzt?

Götz: Also die "Rappelkiste" war ein bisschen vorher auch schon geplant und hat innerhalb des Fernsehsystems zu sehr viel Unruhe geführt. Die mussten also ganz regelmäßig vor den Fernsehrat und begründen, warum sie das gemacht haben und sich rechtfertigen. Das war ja, kam ja aus so einer 68er antiautoritären Bewegung heraus. Und das war zum Anfang für das Bildungsbürgertum ganz schwer zu ertragen.

Insofern: Es ist so, dass wir durchaus auch diese Tendenz hatten, wir müssen etwas Neues probieren, weil wir kamen ja aus einer 50er-, 60er-Jahre, "Dr. Ilse Obrich und die Sonntagskinder", also wirklich ein Studiosetting, wo die bravsten Kinder, die man sich vorstellen kann, in weißen Kleidchen nette Liedchen sangen und etwas bastelten. Das war unser Verständnis von Kinderfernsehen. Und dort etwas gegen anzusetzen, daran haben die Profis gearbeitet, aber die Frage ist, wie soll es denn aussehen?

Heise: Heute vor 40 Jahren startete die "Sesamstraße" im deutschen Fernsehen. Maya Götz vom Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen schaut mit uns zurück. Frau Götz, also '73 war die erste, also ging diese Serie hier ins deutsche Fernsehen, 1976 wurde dann diese amerikanische Rahmenhandlung ausgesetzt, von der Sie auch gesprochen hatten. Die Schwarzen die da mit lebten. '78 gab es dann so ein neues deutsches Ambiente, da traten dann Henning Venske und Lilo Pulver in Erscheinung. Samson und Tiffy wurden erfunden. Warum mussten wir in Deutschland eigentlich diese tapsigen Figuren, diese neunmalkluge Tiffy, warum musste das für Deutschland entwickelt werden? Hatte man sich immer noch nicht so ein bisschen an diese Monster gewöhnt?

Götz: Das Grundprinzip der "Sesamstraße" ist ja, das jedes Land, was dort eben die Rechte erwirbt, seine eigene Figur bildet. Und da überlegt man, was ist denn das, was für Deutschland typisch ist, und kam auf den Bären. Und so entstand eben ein Bär, im Prinzip, ich glaube, im Konzept heißt es, er war also vier Jahre alt, also ein sehr naiver, netter Bär. Und dann eben ein kluges Mädchen, was so war, wie sich die Macher halt Mädchen vorstellten: ein bisschen besserwisserisch, im Prinzip kompetent, aber eben auch nicht so ganz angenehm.

Heise: Ein bisschen zickig war die immer ...

Götz: Ja, genau!

Heise: Kommen wir noch mal auf den Bildungsauftrag zurück, Bildungsauftrag, den das öffentlich-rechtliche Fernsehen, der Rundfunk ja hat, den man damals für Kinder quasi erstmals umsetzen wollte. Bilden und Unterhalten, aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, das amerikanische Original, das konnten wir nicht einfach kopieren, da konnten wir Deutschen nichts mit anfangen?

Götz: Ja, und es zeigte sich auch in den Staaten etwas sehr Interessantes. Man hat dann dauerhaft getestet, wer sind diejenigen Kinder, die wirklich aus der "Sesamstraße" profitieren. Und es war ja eigentlich mal gemacht für die Kinder aus den Armenvierteln, um die zu fördern. Dauerhaft zeigte sich aber, dass es genau die Kinder sind, die nicht draus lernen, sondern die Kinder aus den Bildungshaushalten, die haben besonders viel daraus gelernt. Die sogenannten "Ghettokids" haben an Bildung und an Wörtern und an Zahlen daraus gar nichts gewinnen können.

Und das war im Prinzip auch ein großer Bruch, auch in den USA und noch mal deutlicher bei uns dann eben ein Bruch hin zu sozialem Lernen. Also es wurde diese Bildung, die Zahlen, das wurde runtergefahren und das soziale Lernen wurde in den Vordergrund gestellt.

Heise: Sie würden also sagen, die Kritiker, die damals so einen pädagogischen Zeigefinger vorwarfen, große Langeweile, die haben nicht recht gehabt, die haben unrecht gehabt, man hat es eigentlich genau von diesem Zeigefinger weg geführt?

Götz: Ja, und es ist die Vorstellung, dass Kinder mit einem Zeigefinger lernen würden. Das tun sie auch ein Stück weit, aber vor allem die bildungsorientierten Kinder, denn die haben das als positiv wahrgenommen. Die Kinder, die aus Haushalten kommen, wo ohnehin ein etwas anderer Umgang ist, die nicht so einen positiven Zugang zu Bildung haben, die haben genau mit diesem Zeigefinger ein Problem. Die brauchen andere Zugänge.

Heise: Es gibt ja jetzt auch wieder neue Staffeln der "Sesamstraße". Bei der Flut von Kinderprogrammen, Kinderkanälen, da ist es ja, in der Konkurrenz zu bestehen, doch relativ schwierig, auch eben, wenn man noch das Internet mit einbezieht. Wie geht die Sesamstraße mit diesem globalisierten Angebot um?

Götz: Ja, sie ist weggekommen von diesen Rahmenhandlungen, hat einzelne Geschichten erzählt, diese Geschichten sehr viel stärker gemacht, sehr viel unterhaltsamer gemacht, schlicht und ergreifend, es ist lustiger, hat einfach auf andere Figuren gesetzt und immer wieder auch versucht, was ist das, was für Kinder hier vor Ort einfach attraktiv und spannend ist, und hat mittlerweile einen sehr innovativen Weg gefunden.

Heise: Ist also die "Sesamstraße" wirklich modernes Edutainment für Kinder?

Götz: Auf jeden Fall ist sie ein Teil davon. Sie kann immer nur ein Teil sein, wir haben Gott sei Dank in Deutschland ein sehr starkes Kinderfernsehen, gerade in dem Bereich von Erklärstücken. Wir sind weltweit führend in diesen Wissenssendungen, aus der Tradition der "Maus" heraus kommend. Und die "Sesamstraße" findet ihren Weg, auch mit Wissenseinheiten, aber auch sehr stark diesem sozialen Lernen, gerade mit den neuen Figuren, Wolle und Schaf, erzählt sie ganz spannende soziale Geschichten, die auch durchaus Problembereiche aufgreifen, die wir sonst vielleicht ein bisschen wenig für Vorschulkinder erzählen. Also insofern hat sie da spannende Wege eingeschlagen.

Heise: 40 Jahre "Sesamstraße". Ein Rückblick und durchaus auch ein Ausblick auf Kinderfernsehen in Deutschland mit Maya Götz vom Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen in München. Frau Götz, ich danke Ihnen ganz herzlich!

Götz: Sehr gerne!

Heise: Und die Lieder, die Musik der "Sesamstraße", die haben wir ja bisher nur ganz kurz angespielt – jetzt gibt es das ein bisschen ausführlicher.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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