"Zu allen Zeiten hat der Mensch versucht, Dinge aufzuheben"

Aleida Assmann im Gespräch mit Joachim Scholl · 19.08.2009
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über die Bedeutung von Archiven.
Joachim Scholl: Und ich begrüße in einem Studio in Konstanz Professor Aleida Assmann. Sie lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, berühmt wurde sie durch ihre Forschungen zum kulturellen Gedächtnis. Und für ihre Pionierarbeit auf diesem Feld erhält sie in diesem Jahr den Max-Planck-Forschungspreis. Guten Tag, Frau Assmann!

Aleida Assmann: Guten Tag!

Scholl: Wir wollen mit Ihnen heute einen Gang dorthin unternehmen, wo das Gedächtnis der Menschheit eine solide Stütze hat, wo die Dokumente, die Akten und Zeugnisse lagern: in den Archiven. Zu allen Zeiten hat der Mensch versucht, Dinge aufzuheben, zu sammeln, vor dem Zahn der Zeit zu retten, also zu bewahren. Ist das, Frau Assmann, eigentlich ein anthropologischer Reflex oder ein kultureller?

Assmann: Also das Erinnern ist sicher ein kultureller Reflex und ein anthropologischer, denn zum Menschen gehört es dazu, dass er oder sie die Menschenkultur ausbilden. Das müssen sie nicht unbedingt durch Sammeln tun, sammeln müssen sie einfach, um zu überleben – man denke an diese Jäger und Sammler –, aber sie müssen nicht unbedingt ihre eigenen Rückstände aufheben. Es geht auch ohne.

Man kann seine kulturelle Überlieferung auch mündlich verkörpert tradieren, indem man sie weitergibt an die nächste Generation, an Festen, indem man das, was man als identitätsbildendes und stützendes Wissen identifiziert, indem man das aufführt und mit Musik und anderen festlichen Riten schmückt und auf diese Weise unvergesslich macht.

Scholl: Sie haben in Ihrem Buch "Erinnerungsräume" – mittlerweile ein Standardwerk für die Gedächtnisforschung – das Archiv als einen Ort bezeichnet, wo nicht nur Dokumente aus der Vergangenheit aufbewahrt werden, sondern auch als Ort, wo Vergangenheit konstruiert und produziert werde, so ihre Formulierung. Was ist das für ein Vorgang? Wer konstruiert, produziert hier und was für eine Vergangenheit entsteht auf diese Weise?

Assmann: Also zuerst muss man vielleicht noch sagen, dass Archive nur dort anfallen, wo überhaupt etwas ausgelagert und aufgezeichnet wird. Das heißt, es setzt voraus, dass wir so etwas wie Schrift haben, Aufzeichnungsmedien, und entsprechende dauerhafte Materialien, die dann auch möglicherweise nach 3000 Jahren noch entzifferbar sind.

Dieses Abheften, Ablegen heißt auch nicht unbedingt, dass man das für die Ewigkeit braucht. Zunächst mal hat man Archive angelegt, um die Gesellschaft zu organisieren, um den Staat zu stabilisieren. Archive sind zunächst einmal wirklich Konstruktionen der Macht, um so etwas wie eine Vorratswirtschaft zu produzieren, also über die dürren Jahre hinwegzukommen, indem man etwas sozusagen einmacht, Dinge vorhält.

Und auf der anderen Seite sind es Informationen, die man braucht, um die Bevölkerung zu steuern oder die Insignien der Macht zu schützen. Also das sind grundsätzliche primäre Aufgaben des Archivs. Die historischen Archive, die gibt es eigentlich erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit der französischen Revolution, das sind moderne Archive, Archive, die genau das aufheben, was eigentlich nicht mehr gebraucht wird, damit es den späteren Generationen noch so etwas werden kann wie ein Zeugnis der Epochen, die sie nicht mehr kennen. Also es ist eigentlich eine Flaschenpost in die Zukunft.

Scholl: Sie schreiben auch, ohne Archiv keine Öffentlichkeit, ohne Archiv keine Res publica. Welche politische Rolle spielt ein Archiv?

Assmann: Die Öffentlichkeit der Archive ist eben eine neue, eine moderne Erfindung. Wir wissen ja von vielen Archiven, die nicht öffentlich sind, wie die Stasi-Archive oder auch die Akten der Inquisition, aber dass diese ehemaligen Archive der Macht dann irgendwann der Öffentlichkeit übergeben werden, das ist genau der Schritt in die demokratische Verwaltung der Archive.

Und die ist eben, dass eine Gesellschaft dieses Archiv gemeinsam besitzt, auch gemeinsam der Theorie nach entscheidet, was da hineinkommt und da drin bleibt und es gemeinsam nutzt. Das sind allerdings Ideale, die nicht so einfach einlösbar sind.

Scholl: Etwas aufheben, für die Nachwelt bewahren, heißt zugleich, etwas Wertvolles archivieren. Wer entscheidet eigentlich – also jetzt beschränken wir es auf die Demokratien –, was bewahrungswürdig ist und was nicht?

Assmann: In der Tat ist es so, dass es weitgehend die Archivare selber sind. Ich habe auf Tagungen einmal auch gerade den Nachwuchs der Archivare kennengelernt und habe von den jungen Leuten erfahren, dass es sich da um das längste Studium handelt, das man überhaupt durchmachen kann, also ich hatte einen großen Respekt vor dieser Jugend. Auf der anderen Seite hängt das natürlich damit zusammen, dass man denen auch eine ganz besondere Verantwortung zuschiebt. Nur könnte man sagen, dass die Archivare mit dieser Verantwortung, die ja eine gesamtgesellschaftliche ist, auch irgendwo überfordert sind.

Ein Problem besteht, so sehe ich das, dass die im Grunde unser kulturelles Gedächtnis bewahren, auch über dessen Grenzen entscheiden, sie kassieren, wie man das nennt, ja auch ständig, wenn wieder die Regalkilometer nicht mehr halten können, was da alles nachwächst, sie schränken es immer wieder ein durch Selbstzerstörung der Archive. Also diese dauernden Manipulationen am Archiv, die gehen völlig ohne allgemeine öffentliche Diskussion und Debatte vonstatten. Das ist der Alltag unserer Gesellschaft.

Scholl: Zur Rolle des Archivs für das kulturelle Gedächtnis. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Frau Assmann, nun haben wir schon seit Längerem einen Epochenwandel in der Archivierung von Daten, also die traditionellen Speichermedien – das gedruckte Papier, das Magnetband, die Filmrolle – sind nicht für die Ewigkeit gemacht, sie zerfallen – in Archivkreisen spricht man vom alexandrinischen Schwelbrand. Die Zukunft wird auch hier eine digitale sein. Welche Konsequenz hat dieser Wandel für das Archiv?

Assmann: Vielleicht kann man noch hinzufügen, dass das kulturelle Gedächtnis nicht nur aus dem Archiv besteht, sondern auch aus dem, was ich den Kanon nenne, also das ist ein sehr, sehr viel engerer Bestand dessen, was dazu bestimmt ist, immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt zu werden. Also das basiert auf dem Prinzip der Wiederholung, es muss wieder zurückgeholt werden, es muss immer wieder von der Gegenwart neu angeeignet werden – das ist der enge Kanon der Klassiker, das sind die Geschichtsdaten, die wir alle lernen in der Schule, und mit denen wir in den Denkmälern und den Kommemorationsdaten leben.

Aber was nun in dem Archiv verwaltet ist, ist eine sehr viel größere Menge von Daten, die in diesem Sinne nicht unmittelbar zu uns sprechen, weil sie noch nicht gedeutet sind. Das ist ein riesiger Rohstoff sozusagen für die historische Forschung, für die Geisteswissenschaften insbesondere. Und die Idee, dass es eine Zukunft überhaupt für die Menschen gibt, ist die Grundidee, die überhaupt hinter dem kulturellen Gedächtnis steht.

Der Dichter Peter Rühmkorf hat einmal einen Titel eines Gedichtbandes genannt "Haltbar bis Ende 1999". Der stammt, glaube ich, aus dem Jahr 79. Und das war ja die Zeit, als das Schreiben eine sehr profunde Veränderung durchgemacht hat und das digitale Schreiben in den Blick geriet. Und seitdem wissen wir in der Tat, wer schreibt, der bleibt, so hieß es auch mal in einem Slogan der Post, dass das nicht so selbstverständlich ist. Denn unser Schreiben ist eher ein Schreiben in Wasser als in ein Gravieren in Stein – das war ein Material, das sehr, sehr viel haltbarer war.

Scholl: Es ist übrigens auch ein alter Radiospruch: Wer schreibt, bleibt, wer spricht nicht. Aber das nur nebenbei. Beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek, Frau Assmann, beim Einsturz des Stadtarchivs in Köln wurden einhellig der Verlust von Originalen beklagt. Ist im digitalen Zeitalter die Idee des Originals überhaupt noch haltbar?

Assmann: Aber selbstverständlich. Die Originale verlieren ja nichts dadurch, dass wir alles umkopieren können auf digitale Datenträger, im Gegenteil, hier kann man sagen, es ist wiederum die Reproduktion, die den authentischen Wert des Originals überhaupt erst produziert.

Das Original erhält in seiner Materialität, in seinem Unikatcharakter eine Aura, die so den Daten, die umkopiert werden könnten, niemals zukommt. Das heißt, man spürt überhaupt erst im Original, was man alles nicht übertragen kann in eine weitere Zukunft, wenn man das Materielle verliert.

Scholl: Sie, Aleida Assmann, sprechen in diesem Zusammenhang vom automatischen Archiv der Zukunft. Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Assmann: Ja, das bezieht sich hier auf die Notwendigkeit, dass es nicht mehr genügt, alles nur in der materiellen Form zu erhalten, das heißt zu konservieren. Die Konservierung ist ein wichtiger Teil der archivalischen Praxis, aber die darüber hinausgehende Form, jetzt der Erhaltung, ist die Umspeicherung, das Umkopieren auf digitale Datenträger.

Und über das Umkopieren entsteht ein ganz tiefgreifender Strukturwandel, nämlich die neue Zugänglichkeit, der Open Access sozusagen zu den Archiven, die Verfügbarkeit, die dieses Wissen wirklich eigentlich zu einem demokratisch-gesellschaftlichen Gemeinwissen machen könnte. Also man kann sagen, dass das Internet und die Möglichkeiten, die damit verbunden sind, dem Archiv Vorschub leistet und dafür sorgen kann, dass die Bestände in ganz neuer Form wirklich auch kommuniziert werden können.

Scholl: Welche Auswirkung wird denn diese Entwicklung auf das kulturelle Gedächtnis haben, so wie wir es kennen? Wird das sich auch verändern in dieser Form?

Assmann: Das kulturelle Gedächtnis ruht ja, wie ich sagen würde, auf zwei Säulen – auf der einen Seite dem Kanon, wo alles immer wieder erneuert wird, das sind die Bilder, die immer wieder in den Museen ausgestellt werden, und die Bühnenwerke, die immer wieder auf den Bühnen zu sehen sind, die Romane, die immer wieder in den Schulen und Universitäten gelesen werden und interpretiert werden, auf der einen Seite, und auf dem Archiv auf der anderen Seite.

Und das Spannende an dieser Dynamik besteht meines Erachtens besonders darin, dass beide Systeme, beide Säulen instabil sind oder dynamisch sind. Sie sind sehr stark aufeinander bezogen: Was aus dem einen herausfällt, kann ins Archiv zurückfallen, wo es noch nicht verschwindet, vieles, was im Archiv ist, kann überhaupt erst entdeckt werden und wieder neu in den Kanon unseres verengten Bewusstseins eingeführt werden.

Denn das Gedächtnis ist ja so etwas wie eine Flasche mit einem sehr engen Hals, da passt nicht sehr viel hinein, und die Aufmerksamkeit und die Aneignung kann immer nur einen ganz kleinen Bestand tatsächlich betreffen.