Zschäpe besitzt eine "erstaunliche Farblosigkeit"

Milo Rau im Gespräch mit Ute Welty · 04.06.2013
Der Regisseur Milo Rau hat bereits den Breivik-Prozess auf die Bühne gebracht, jetzt nimmt er sich des NSU-Verfahrens an. Beate Zschäpe attestiert er eine bemerkenswerte Durchschnittlichkeit. Die "trockene" Art der Rechtssprechung sei typisch deutsch.
Ute Welty: Ab heute geht es in medias res, ab heute werden wohl die ersten Zeugen vernommen im Prozess gegen die mutmaßlichen Mittäter der Morde des NSU. Bislang beherrschen juristische Feinheiten und Finten die Geschehnisse vor dem Münchner Oberlandesgericht, und Milo Rau hat daraus seine ganz eigenen Schlüsse gezogen. Der Schweizer Regisseur und Autor hat ein ganz eigenes Genre entwickelt: Er hat auf der Basis des Breivik-Prozesses oder des Pussy-Riot-Prozesses Theater geschaffen – mehr als Lesung denn als Spiel –, und er nähert sich jetzt eben auch dem Thema NSU auf diesem Wege an. Guten Morgen, Herr Rau!

Milo Rau: Guten Morgen!

Welty: Heute ist ja so ein Tag, wo man noch mal sehr aufmerksam nach München schaut. Ist für Sie Kontinuität im Prozess dieses Schauens wichtig oder lassen Sie lieber Zeit verstreichen, um erst später in Ihre Art der Aufarbeitung weiter einzusteigen?

Rau: Ja, grundsätzlich lasse ich lieber etwas Zeit verstreichen. Also um jetzt das Beispiel des Breivik-Prozesses zu nehmen, das Sie erwähnt haben, da bin ich eigentlich jetzt ein paar Monate später auf diese Rede gestoßen, die im Zentrum stand meiner Inszenierung der ersten Verteidigungsrede von Anders B. Breivik, weil sich oft auch zeigt, dass ein paar Monate später gewisse Fragen, die eigentlich in dieser Rede angelegt waren, die sehr zentral waren, dann irgendwie schon erledigt sind vom Prozess selber oder vielleicht auch von der medialen Verarbeitung, und man noch mal fokussieren kann auf andere Punkte, vielleicht auch auf Formalien einfach, die drinstecken in so Gerichtsmomenten.

Welty: Die ersten Prozesstage haben ja schon gezeigt, wie kompliziert das NSU-Verfahren ist. Wie begegnen Sie dieser Herausforderung? Weil es geht ja dann auch sehr um juristische Feinheiten.

Rau: Ja, das stimmt, also das ist, glaube ich auch, das hat man sehr klar gesehen in den ersten Tagen, die Enttäuschung der Angehörigen, weil oft Menschen glauben, es geht bei großen Prozessen sofort in medias res. Aber dann müssen einfach zuerst mal monatelang die Formalien geklärt werden, Losverfahren – und dann läuft das auch einfach nach einem festen Prinzip ab, und das heißt eben auch in dubio pro reo. Auch wenn es klar zu sein scheint, wer Schuld hat, so muss doch das ganze Beweisverfahren durchgezogen werden, so, als wäre es nicht klar, was es ja auch nicht ist. Und das ist, glaube ich, das, was in Gerichtsprozessen – das habe ich gesehen bei verschiedenen Projekten, die ich gemacht habe – ein bisschen die, wie soll ich sagen, die moralische Problematik oder die politische Problematik aufwirft in solchen Prozessen, dass gewisse Dinge, die eigentlich zu Prozessbeginn schon klar scheinen – und eigentlich will die Öffentlichkeit nur noch den Beweis – tatsächlich noch mal von Null her aufgewickelt werden.

Welty: Bleibt die Menschlichkeit da auf der Strecke?

Rau: Die Menschlichkeit bleibt sicher oder, ich sage mal, die Rücksichtnahme bleibt sicherlich ein Stück weit auf der Strecke, wie bei allen Prozessen, wo halt alles aufgedeckt werden muss, was schmutzig ist, gerade wenn die Wunden so frisch sind, besser zugedeckt bliebe. Auf jeden Fall. Das geht gar nicht anders, könnte man sagen.

Welty: Wo darf die Inszenierung des Prozesses Teil Ihrer Inszenierung werden, und wo können Sie die Inszenierung im Prozess mit Antrag und Gegenantrag als solche entlarven?

Rau: Ich habe ja in Moskau … habe ich eine Wiederaufnahme von Kunstprozessen gemacht gegen Künstler. Nicht indem ich die nachspielen lassen habe, sondern indem ich die beteiligten Leute auf die Bühne gebeten habe und in einem dreitägigen Prozess noch einmal mit neuen Beweisen und auch teilweise neuen Zeugen diesen Prozess noch einmal durchgeführt habe, der auch zu einem anderen Urteil führt, nämlich Pussy Riot wurde freigesprochen. Ein Mitglied saß bei mir auch auf der Anklagebank. Und ich glaube, das ist die Möglichkeit, die ich in der Tat natürlich habe, den Verlauf noch einmal zu öffnen, wenn ich vergangene Prozesse nehme.

Ich habe noch mal einen anderen gemacht, das war der Prozess gegen das Ehepaar Ceausescu. Den habe ich tatsächlich nachspielen lassen von rumänischen Schauspielern, also das war ein bisschen ein anderes Format. Und dort habe ich versucht zu zeigen, wie die Leute, die eigentlich den Diktator und seine Frau verurteilt haben, wie sehr die auch verwickelt waren in dieses Machtsystem. Da habe ich versucht, eine andere Geschichte zu erzählen. Ich denke, dass die Darstellung oder, ich würde jetzt mal sagen, die Ausstellung der Bühne noch einmal einen anderen Blick ermöglicht darauf, was direkte Involviertheit, die gewissermaßen durch, wie soll ich sagen, durch diese andere Anlage eines realen Prozesses gegeben ist, noch mal abändert.

Welty: Was nehmen Sie wahr, was andere Prozessbeobachter womöglich übersehen oder überhören? Was lässt den Theatermann aufmerken?

Rau: Schwierig zu sagen. Ich habe, um das Beispiel Breivik zu nehmen … was mich immer aufmerken lässt – und das hat eigentlich mit allen historischen Prozessen oder auch Ereignissen zu tun, mit denen ich mich beschäftigt habe in den letzten Jahren –, ist gewissermaßen die Normalität oder die Alltäglichkeit, die da in diesem Dokumenten steckt, wo man denkt, es muss eine Abfolge von schockierenden oder zumindest pathetischen Worten sein. Und da merkt man oft, es ist im Grunde eine Abfolge von Dingen, die wir alle in so einem Moment quasi fast schon selber sagen würden und die wir fast auch schon gewusst haben.

Die Verführungskraft dieser Verteidigungsrede von Anders B. Breivik war, dass sie tatsächlich ein ganz weites Stück weit einfach banales rechtspopulistisches Konsensgefasel auch war, dass Dinge drin waren, die man überall lesen kann, die überall gesagt werden. Und das, glaube ich, ist immer – man spricht da gerne von der Banalität des Bösen – aber das ist auch ein, wie soll ich sagen, ein Erschrecken im Kleinen, dass auch diese Frau Zschäpe, wie immer wieder besprochen wird, im Grunde komplett unauffällig bleibt in diesem Gerichtssaal. Man versucht, ein bisschen was rein zu interpretieren – Überheblichkeit, Kaltherzigkeit, Morallosigkeit –, aber es funktioniert nicht ganz, weil die Durchschnittlichkeit der Erscheinung und der Vorgänge überhaupt nicht messbar ist an der politischen Bedeutsamkeit dessen, was eigentlich diese Taten und dieser Prozess aussagen sollte.

Welty: Da sind aber dann die Situationen sehr unterschiedlich von den Prozessen, die Sie eben genannt haben, Pussy Riot und Breivik, da ist ja jetzt sehr viel Kühle eigentlich im Spiel.

Rau: Entschuldigung, das habe ich nicht … Also Sie meinen, Kühle ist im Spiel …

Welty: Im Auftritt der Angeklagten, die bleiben ja bislang sehr emotionslos, ja, fast ein bisschen farblos.

Rau: Ja, genau, das stimmt, das ist ja das Gleiche gewesen bei Breivik, also eine wirklich erstaunliche Farblosigkeit, eine sehr monotone Stimme. Bei Pussy Riot war es ein bisschen anders, weil dieser Prozess als Schauprozess inszeniert wurde, weil der in Russland stattfand, und weil damit eigentlich auch ein bisschen ein Schauspiel der Macht gezeigt werden sollte, der Menge, sage ich mal, den Fernsehzuschauern. Da gab es dann große Momente: Hunde im Gerichtssaal, diese Glaskabine und so weiter.

Das sind natürlich Dinge, die da im Landesgericht in München nicht der Fall sind. Da versucht man wirklich, eine extrem trockene Art der Rechtsprechung zu zeigen, das ist auch, ich sage jetzt mal, typisch deutsch, so wie auch der Breivik-Prozess in gewisser Hinsicht auch, natürlich nicht typisch deutsch, aber typisch norwegisch war: auch sehr trocken, ein sehr langweiliger Raum und so weiter. Und da unterscheidet sich der Pussy-Riot-Prozess sehr stark davon.

Welty: Der Regisseur und Autor Milo Rau macht sich daran, den NSU-Prozess auf seine Art zu bearbeiten, ein gewaltiges Projekt, und dafür wünschen wir klaren Kopf und Durchhaltevermögen!

Rau: Vielen Dank!

Welty: Und wir danken auch fürs Gespräch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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