Zoologie und Religion

Die Evolution von Glauben und Moral

Bonobos im zoologisch-botanischen Garten Wilhelma in Stuttgart, aufgenommen am 24.04.2015.
Im Verhalten der Bonobos erkennt der Primatenforscher Frans de Waal mögliche Vorformen der Religiosität. © picture-alliance / dpa / Benjamin Beytekin
Von Susanne Billig · 01.09.2015
Schimpanse, Ratte oder Elefant: Sozial lebende Tiere haben natürlicherweise das Bedürfnis, gut miteinander auszukommen. Warum darin der Schlüssel zu moralischem Verhalten liege, erläutert der niederländische Zoologe Frans de Waal in seinem Buch "Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote".
Wenn es in Strömen gießt, kauern Schimpansen sich unter das Blätterdach des Dschungels und setzen ihr schlecht gelauntes "Regengesicht" auf. Doch manchmal packt sie ein heiliger Furor: Dann springen sie mit gesträubtem Fell von den Bäumen und stampfen aufrecht auf zwei Beinen umher - bis der Regen verschwindet.
Auch das neueste Buch des niederländischen Zoologen Frans de Waal quillt von Geschichten aus der Tierwelt über: Schimpansenmütter, die ihre Kinder jahrelang aufwendig durch die Kindheit lotsen. Ratten, die auf Futter verzichten, um Artgenossen aus der Patsche zu helfen. Bonobos, die stundenlang neben einem gestorbenen Mitglied ihrer Gruppe ausharren, sichtlich von dessen Tod erschüttert. Und wer weiß - vielleicht soll der Regentanz ja Naturgewalten beschwören?
Die Grundlagen moralischen Verhaltens
Die grundlegenden Werte des moralischen und möglicherweise auch des religiösen Verhaltens sind schon im Tierreich zu finden, lautet die Grundthese des Autors. Von einer "Bottom-up-Sicht" auf Moralität spricht de Waal und betont, es muss dem Menschen nicht von außen übergestülpt werden, anderen zu helfen, fair zu sein, sich zu versöhnen und zu verzeihen. Ob Mensch, Schimpanse, Ratte oder Elefant: Sozial lebende Tiere haben natürlicherweise das Bedürfnis, mit anderen gut auszukommen. Dafür leisten sie bereitwillig ein gewisses Maß an Impulskontrolle, tarieren also Sein und Sollen immer wieder miteinander aus - hier liegt für Frans de Waal der Schlüssel zur Moral.
Von seiner These ausgehend kritisiert der Autor im Laufe des Buches verschiedene philosophische und religiöse Positionen: Dazu gehört die moralinsaure Religiosität jeder Couleur, die den Menschen ohne Direktiven von oben dem sittlichen Untergang geweiht sieht. Dazu gehört aber auch eine engstirnige Naturwissenschaft, die Tiere noch immer viel zu häufig zu Reiz-Reaktionsautomaten degradiert. Frans de Waal knöpft sich aber auch die "Brights" vor - fundamentalistische Neoatheisten, die sich einer friedlichen Koexistenz von Wissenschaft und Religion verweigern, und verweist auf den Regentanz der Schimpansen und die Totentrauer der Bonobos als mögliche Vorformen der Religiosität, die somit natürliche, evolutionäre Wurzeln hätte. Tiere kennen wie der Mensch die Sehnsucht, sich zeitweise in Welten des Träumens, Wünschens und Hoffens aufzuhalten, erklärt der Autor und sieht hier den Wert des religiösen Glaubens.
Klappt die Versöhnung von Wissenschaft und Religion?
Ob sich Wissenschaft und Religion so einfach versöhnen lassen? Schließlich gibt es kein religiöses System, das sich mit Psychohygiene qua Illusion begnügte, anstatt Wahres über die Struktur der Wirklichkeit aussagen zu wollen. Sein Bottom-up-Ansatz kann in diesem Punkt also nicht überzeugen, dennoch erweist sich Frans de Waal in seinem Buch einmal mehr als rundum würdiger Vertreter der Denk- und Lebensweise, die er an seinen Bonobos so schätzt: Neugierig sein auf das Leben - und bloß nicht alles auf die Goldwaage legen; so lässt es sich auskommen und macht Spaß.

Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote. Moral ist älter als Religion
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Catherine Hornung
Klett-Cotta, Stuttgart 2015
365 Seiten, 24,95 Euro

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