Zimmer: Die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend

Moderation: Gabi Wuttke · 26.05.2008
In Deutschland muss nach Ansicht von Renate Zimmer mehr in frühkindliche Bildung und Erziehung investiert werden. Gerade in den ersten drei Lebensjahren gehe es darum, dem Kind eine gute Basis für seine weitere Entwicklung zu geben, sagte die Vorstandsvorsitzende des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung.
Gabi Wuttke: "Deutschlandradio Kultur - Themenwoche Schule". Und zum Beginn dieses Themenschwerpunkts in dieser Woche fangen wir um 7:49 Uhr ganz früh an bei der frühkindlichen Förderung. Im niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung wird die kindliche Entwicklung erforscht. Es wird von Professor Renate Zimmer geleitet. Guten Morgen, Frau Zimmer!

Renate Zimmer: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Es ist noch gar nicht so lange her, dass werdende Eltern angefangen haben, ihrem ungeborenen Kind gezielt Musik vorzuspielen und mit ihm zu sprechen. Aber wann spricht man eigentlich von frühkindlicher Bildung, ab welchem Alter?

Zimmer: Man kann schon sagen, dass Kinder eigentlich von Geburt an lernbegierige und auch lernfähige und kompetente Personen sind. Man kann vom ersten Lebenstag an davon sprechen, dass Bildungsprozesse beginnen. Nur sind die natürlich weniger intentional, weniger zielgerichtet. Das Kind lernt mehr durch Selbsttätigkeit, durch Eigenaktivität. Aber von Bildung kann man auch schon in dieser Altersstufe sprechen.

Wuttke: Und ab wann ist eine zielgerichtete Bildung und Förderung sinnvoll?

Zimmer: Sinnvoll ist es in jedem Fall, Kinder in eine anregende Umgebung zu geben, in eine Umgebung, die sowohl in sozialer als auch in kultureller, materialer Hinsicht dem Kind Anregungen verschafft. In dieser Umgebung lernt das Kind am allermeisten, und da kann man jetzt nicht davon sprechen, dass Eltern gezielt ihre Kinder fördern sollen, aber man sollte immer daran denken, dass ein Kind sehr wissbegierig und neugierig all das aufnimmt, was in seiner Umgebung passiert.

Wuttke: Nun hat man ja in den letzten Jahren festgestellt, wie prägend auch gerade die ersten drei Jahre sind, wie prägend diese Phase bis zum Alter von drei, vier Jahren ist, um eine Basis, einen Schatz anzulegen, aus dem der Mensch dann eigentlich sein ganzes restliches Leben profitiert. Heißt das eigentlich anders herum, dass die landläufige Erziehung der letzten Jahrhunderte nicht das Optimum eines Menschen gefordert hat?

Zimmer: Genau das kann man sagen. Man hat die Kinder verdummt in den ersten Lebensjahren und hat dann gesagt, erst wenn sie in die Schule kommen, dann entfalten sie ihr optimales Potenzial. Davon kann man überhaupt nicht mehr ausgehen. Gerade die Erkenntnisse der Neurowissenschaften haben ja verdeutlicht, dass das Gehirn in den ersten Lebensmonaten und Jahren, gerade so in der Phase bis zum dritten, vierten Lebensjahr am meisten eben damit beschäftigt ist, Verknüpfungen zu bilden, Synapsen herauszubilden. Man muss aber auch wissen, dass in dieser Zeit eben nicht so sehr von außen dem Kind etwas eingetrichtert ist, sondern dass das Kind aktiv lernt: in erster Linie über Sinneserfahrungen, über Bewegung, über den Einsatz seines ganzen Körpers.

Wuttke: Aber wann ist ein Kind überfordert? Ich habe gerade von einem dreijährigen chinesischen Jungen gelesen, dem beigebracht wird, kleine Reden vor Publikum zu halten, um ihm den Weg zu ebnen für ein künftiges Manager-Dasein. Immer wieder wird auf die Steigerung des Intelligenzquotienten geschielt. Was ist also sinnvolle Förderung?

Zimmer: Dieses Beispiel ist natürlich totaler Humbug. Das kann man schon so sagen.

Wuttke: Wird aber praktiziert; damit verdienen einige Leute reichlich Geld.

Zimmer: Ja. Das ist ein Auswuchs dieser ganzen Entwicklung, den ich auch für gefährlich und für gar nicht sinnvoll halte. Man muss auch sehen: Wie lernen Kinder? Nicht nur, dass sie lernen, sondern wie lernen sie in den ersten Lebensjahren? Sie lernen vor allem durch Entfaltung ihrer Möglichkeiten, gerade über den Körper und über ihre Sinne, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Netzwerkbildung des Gehirns ist abhängig von Bewegungserfahrungen, von Wahrnehmungserfahrungen. Der Körper ist praktisch das Werkzeug der Erfahrung. Er bildet auch die Basis für intellektuelle Leistungen.

Das heißt aber, dass man dem Kind auch viel Möglichkeit zur Eigenaktivität geben muss, dass es selbst seine Tätigkeiten entfalten darf, dass es auch eine Auswahl treffen muss an Dingen, die es überhaupt lernen muss oder lernen möchte. Also man muss auch schon trennen zwischen unsinnigen Dingen, die wir Erwachsenen den Kindern vermitteln wollen, und zwischen den Dingen, die die Kinder selbst erkennen und erforschen wollen.

Wuttke: Krippen als Verwahranstalten, Kindergärten, in denen mehr Geld in die Verwaltung als in die Betreuung gesteckt wird. Frau Zimmer, mal jenseits der Aufgabe, die Eltern haben, wie beurteilen Sie die Rahmenbedingungen für frühkindliche Förderung in Deutschland?

Zimmer: Da muss noch eine ganze Menge investiert werden. Gerade in dieser Zeit, die im Moment diskutiert wird, die ersten drei Lebensjahre, wo man davon ausgeht, dass es sich ja nicht nur um Betreuung, sondern eben auch um Bildungs- und Erziehungsprozesse handelt, da sind Kinder eigentlich am aufnahmefähigsten und man hat auch festgestellt, dass sie gerade im Hinblick auf ihre Sprachentwicklung, auf ihre Bewegungsentwicklung und auf ihre soziale Entwicklung in dieser Zeit am meisten profitieren können. Mehr als sie zum Beispiel häufig in der Familie profitieren.

Aber es müssen auch gute Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Beziehungsgestaltung, also das Betreuungsverhältnis von Erzieherinnen und Kindern geschaffen werden, außerdem gute Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Anregung im räumlichen Umkreis. Also nicht zu große Gruppen, entsprechend ausgestattete Räume. Die Diskussion fängt bei uns jetzt eigentlich erst an. Nachdem die Einsicht gewonnen worden ist in die Bedeutung der ersten Lebensjahre, müssen wir sie jetzt eben auch mit dem füllen, was Kinder in dieser Entwicklungszeit wirklich brauchen.

Wuttke: Nur ist ja die Frage, wer eine Einsicht gewonnen hat. Wir haben in dieser Sendung von einer Psychologin gehört, die in frühkindlicher Förderung eine Stabilisierung des Menschen sieht mit der Konsequenz, dass er der Gesellschaft weniger Kosten verursacht, weil er nicht so leicht krank wird, weil er einfach an sich ein stabilerer Mensch ist. Wie stehen Sie denn als Wissenschaftlerin zur auch politischen Ökonomisierung frühkindlicher Fähigkeiten?

Zimmer: Die würde ich zunächst mal nach außen stellen, weil das nicht so sehr meine Aufgabe ist zu sehen, wie die Gesellschaft im Hinblick auf Kosteneinsparung von dieser neuen Situation profitiert, sondern ich würde zunächst mal an das Kind denken, wie ich ihm eine gute Basis für weitere Entwicklung geben kann. Das ist das Ausschlaggebende. Wie kann ich es festigen und kräftigen. Genau wie man ein Haus baut und an das Fundament größte Anforderungen stellen muss, so muss unser Fokus im Moment eben auch auf die frühkindliche Entwicklung ausgerichtet sein. Wie kann ich dem Kind eine gute Basis geben, damit es Selbständigkeit erwirbt und damit es zu einem kompetenten Menschen heranwächst.

Wuttke: Vielen Dank, Frau Zimmer!

Zimmer: Danke schön!

Wuttke: Renate Zimmer, die Vorstandsvorsitzende des niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung, im Rahmen der Themenwoche Schule hier im Deutschlandradio Kultur. Und wir freuen uns natürlich auf Ihre Reaktionen unter der E-Mail-Adresse themenwoche.schule@dradio.de.