Zielscheibe von Hass und Gewalt

Von Otto Langels · 09.11.2013
Judenhass in Ungarn, mehr Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen in Frankreich: Bei einer Tagung in Berlin ging es um "Antisemitismus heute" – aber auch um das Dilemma, wie Kritik an der israelischen Regierung von offener oder versteckter Judenfeindlichkeit abgegrenzt werden kann.
Im Jahr 2008 beschloss das Europäische Parlament, alljährlich den 23. August als europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zu begehen. Das Datum erinnert an den 23. August 1939, an dem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde. Während in Deutschland am 9. November oder am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZs Auschwitz, der NS-Opfer gedacht wird, ist der 23. August in verschiedenen osteuropäischen Ländern inzwischen ein wichtiger Gedenktag. Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung sieht darin den Versuch, sich als Opfer des Stalinismus zu definieren und von der eigenen Rolle als Kollaborateure des NS-Regimes abzulenken:

Juliane Wetzel: "Indem man jetzt an beide Terrorregime und an die Folgen an dem gleichen Tag gedenkt, wird natürlich der Nationalsozialismus und der Holocaust trivialisiert. Natürlich, kein Zweifel, stalinistischer Terror war entsetzlich, und natürlich muss der auch ein Gedenken haben, aber diese beiden Phänomene auf eine Stufe zu stellen, ist natürlich hochproblematisch."
Wohin diese Entwicklung führen kann, ist gegenwärtig in Ungarn zu beobachten. Dort hat die nationalkonservative Regierung mit tatkräftiger Unterstützung rechtsextremer Gruppen ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem sich judenfeindliche Tendenzen ungehemmt entfalten können. Der Berliner Soziologe Peter Ullrich:

"Dort sind antisemitische Einstellungen und Äußerungen in aller Öffentlichkeit zu einer gewissen Normalität geworden, weil der öffentliche Druck fehlt. Das ist in der Bundesrepublik ganz anders, da gibt es so immensen öffentlichen Druck, dass antisemitische Einstellungen häufig eher ins Private und in die Latenz zurückgedrängt werden."
Allerdings ist Antisemitismus kein ausschließlich osteuropäisches Phänomen. In Deutschland registriert die Polizei jährlich über 1000 antisemitische Vorfälle, die meisten sind Propagandadelikte. In Frankreich ist die Zahl der Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen im letzten Jahrzehnt stark gestiegen. Und in Großbritannien sorgt der Boykott israelischer Produkte für Aufsehen. David Feldman, Historiker an der Universität London, sieht Parallelen zu früheren Aktionen:

"Wir brauchen nur an die nationalistischen Boykotte gegen Juden in Ost- und Mitteleuropa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie an den Nazi-Boykott zu denken, es gibt eine Vielzahl historischer Vorläufer. Aber die Unterstützer der Boykott-Bewegung fühlen sich nicht angesprochen, wenn man sie als Antisemiten bezeichnet."

Allerdings wurde im Verlauf der Konferenz das Dilemma der Experten deutlich, zwischen legitimer Kritik der israelischen Regierung und antisemitischen Aktionen zu differenzieren. Wann schlägt ein harsches Urteil zu Israels Nahostpolitik in Antisemitismus um? Frühere Boykott-Aktionen gegen die Apartheid-Politik Südafrikas oder das Pinochet-Regime in Chile standen nie unter dem Verdacht des Antisemitismus. Verbietet sich ein Aufruf gegen Israel, weil es den "Judenstaat" betrifft und beklemmende historische Assoziationen auslöst? Peter Ullrich spricht von einer Grauzone, in der Israelkritik und Judenfeindschaft aufeinander prallten.

Peter Ullrich: "Diese vermischen sich, und dann kann es aber passieren, dass antisemitisch eingestellte Personen die Kritik an Israel als Vehikel nutzen, das auf eine Art und Weise zu artikulieren, die gestattet ist; oder andersrum, dass Kritikerinnen und Kritiker Israels auch für antisemitische Argumente offen sind."
Antisemitismus, auch das zeigte die internationale Konferenz im Jüdischen Museum, steht stellvertretend für das Phänomen des Rassismus: Einzelne Gruppen werden wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft angefeindet, mit negativen Stereotypen belegt und als nicht dazu gehörig abgestempelt. Nicht nur Volkes Stimme, sondern auch Regierungen fordern und fördern diese Aus- und Abgrenzungsprozesse.

Peter Ullrich: "In diesem Kontext ist der Rassismus, der institutionelle, der dazu führt, dass vor den Toren Europas massenhaft Menschen ertrinken, genauso ein Moment wie der Hass gegen Sinti und Roma, die per se beispielsweise verdächtigt werden, wenn das Kind hellhäutig ist, dass es nicht so richtig dazugehört."