Zeugnis sinnlicher Nachkriegserfahrung

25.07.2013
Gerne werden die 50er-Jahre in Deutschland und Österreich als die der erfolgreichen Konstituierung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung angesehen. Wie stark sie aber auch Folgejahre des Weltkrieges waren, zeigen plastisch die Kindheitserinnerungen des österreichischen Autors Karl-Markus Gauß.
Unter dem Titel "Das erste, was ich sah", fügt Karl-Markus Gauß Miniaturen aus den späten 50er- und frühen 60er-Jahren zu einem Bild des Aufwachsens in einer Nachkriegsgesellschaft zusammen. Berichtet wird in der ersten Person, aus Sicht eines Knaben, aber mit dem Bewusstsein des zurückblickenden Erwachsenen.

Gleich zu Beginn ertönt eine körperlose Stimme und lässt Vergangenheit in die Gegenwart dringen: Der Zweite Weltkrieg ist seit mehr als zehn Jahren vorbei, doch aus dem Radio hört ein kleiner Junge, der gerade im Wohnzimmer mit seinen Lego-Steinen spielt, Suchmeldungen vermisster Soldaten, "die Litanei unbekannter Namen, fremder Orte, zerschlagener Divisionen."

Karl-Markus Gauß, 1954 geboren, eröffnet seine Kindheitserinnerungen mit dieser kleinen Szene und stellt fest, sie habe in ihm das Bewusstsein seiner selbst geweckt. Die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit erweist sich bei fortschreitender Lektüre als eine Art Leitmotiv des Buches. Der Autor beschreibt, behutsam und eindringlich, persönliche Schlüsselmomente und eine Zeit, die noch stark von der jüngsten Geschichte überschattet ist.

Es ist eine Zeit, in der es Teppichklopfer und Klopfstangen gibt, "Damentaschen aus braunem Leder wie ein Ziegelstein mit Henkel", Konservendosen, in denen Schrauben und Nägel aufbewahrt werden, in der das Radio noch ein grünlich leuchtendes Band hat, Kinderzöpfe zum Kranz um den Kopf gewunden werden und man im Triebwagen der Bahn reist. Es ist auch eine Zeit, die von Heimatvertriebenen und Kriegsinvaliden – darunter "Herr Kogler, ein Kopfschüssler" - bevölkert ist, von Lehrerinnen, die Schüler züchtigen, von Kindern, die Rüdiger, Hugo und Waldemar heißen.

Der Schauplatz ist Salzburg, wohin es Karl-Markus Gauß aus der Batschka stammende Familie verschlagen hat. Die Eltern sprechen serbokroatisch, ungarisch, und das Deutsch der Donauschwaben. Sie wohnen in einer Siedlung zusammen mit anderen Heimatvertriebenen: Südtirolern, Schlesiern und Sudetendeutschen.

Die Straßen der näheren Umgebung weisen noch weiter in die Geschichte zurück: sie tragen Namen zahlreicher K.u.K.-Militärs, so dass der Autor den Schluss zieht: "Ich wuchs unter Generälen auf".

Karl-Markus Gauß hat ein sehr persönliches Erinnerungsbuch geschrieben – ohne dass er darin den eigenen Namen nennt. So macht er sich zum Chronisten einer Zeit, die durch seine Schilderungen lebendig wird - und eines kindlichen Erwachens. "Das Erste, was ich sah", ist auch eine Entwicklungs-und Wahrnehmungsgeschichte, Zeugnis sinnlicher Welterfahrung und daraus hervorgehender Bewusstseinsbildung.

Besprochen von Carsten Hueck

Karl-Markus Gauß: Das erste, was ich sah
Zsolnay Verlag, Wien 2013
107 Seiten, 14,90 Euro


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