Zerstörung und Rettung in letzter Minute

Von Jantje Hannover · 29.04.2005
Nur für wenige Stunden weht die weiße Fahne von der Anklamer Nicolaikirche. Denn die Naziführung befiehlt die restlose Verteidigung der strategisch wichtigen Stadt an der Peene. Aber der Vormarsch der Roten Armee lässt sich nur um wenige Stunden aufhalten. Anklam wird dann von deutschen Fliegern fast vollständig zerstört.
Greifswald dagegen erlebt das Kriegsende ohne Blutvergießen und Zerstörung. Denn einflussreiche Personen der Greifswalder Gesellschaft widersetzen sich dem Befehl der Naziführung und handeln mit der Roten Armee die kampflose Übergabe der Stadt aus. Zeitzeugen und Tagebücher beschreiben das gegensätzliche Schicksal der Nachbarstädte aus den letzten Tagen des Krieges.

Remertz: " Wenn ein Asteroid auf die Erde stürzen würde und man würde das vorher berechnen können, (-), und man könnte aber nichts, aber auch gar nichts dagegen tun, dann würde man sich so fühlen wie wir uns damals gefühlt haben: die Russen kommen, damit waren furchtbare Bilder verbunden der Propaganda, das waren ja Bestien, ich seh das Plakat noch vor mir, Untermenschen, die die Zähne fletschten, die jede Frau entehrten und in fürchterlicher Weise die Kinder zerfetzten, das waren grausige Progpandasachen. "

Brigitte Remertz Stumpff aus Greifswald, damals 13 Jahre alt. Ab Weihnachten 44 wartet die Bevölkerung in Anklam und Greifswald angstvoll auf die näher rückende Front. Die ersten Flüchtlinge treffen ein, erst aus Ostpreußen. Dann kommen immer mehr, aus Hinterpommern, Swinemünde und Stettin. Im April 45 hat sich die Einwohnerzahl Greifswalds verdoppelt, auf jetzt 68.000. Immer häufiger gibt es Stromsperren. Die Lebensmittel werden knapp.
Bereits am 12. Januar 1945 hat an der Weichsel die sowjetische Großoffensive begonnen. Das Deutsche Heer, an diversen Fronten zerrieben und durch zahlreiche Niederlagen geschwächt, kann sich nur noch zurückziehen. Im April erreichen die sowjetischen Truppen auf breiter Front die Oder. Unter Androhung drakonischer Strafen gibt Hitler den strikten Befehl, die Oderfront um jeden Preis zu halten. Der Wehrmachtsbericht vom 16.April 1945:

Radio-Oton Endoffensive: "Heute morgen traten die Bolschewisten auf der gesamten Frontbreite des Küstriner Brückenkopfes zwischen Lebus und Freienwalde zum Großangriff an. Mit zahllosen Geschützen begann noch während der Dunkelheit um vier Uhr ein zweistündiges pausenloses Trommelfeuer mit einer Wucht, die wir selten erlebt haben. "

Tatsächlich gibt es für die Deutsche Wehrmacht wenig Grund zum Optimismus. An der unteren Oder, an der Grenze zu Mecklenburg und Vorpommern, stehen rund 100.000 deutschen Soldaten gleich dreimal so viele Kämpfer der 2. Belorussischen Front gegenüber. Bei den Panzern übertreffen die Sowjets die Deutschen um ein Vierfaches. Weit über tausend russische Kampfflieger kommen zum Einsatz, während die deutsche Luftflotte wegen Treibstoffmangels überwiegend am Boden bleibt. Die 3. Panzerarmee der Heeresgruppe Weichsel ist eine eilig zusammengewürfelte Truppe: Reste des in Preußen und Pommern geschlagenen Heeres, dazu kommen Reserveeinheiten. Manche Soldaten sind noch nicht einmal mit Handwaffen ausgestattet. Noch am 20. April 45, dem Geburtstag des Führers, beschwört Josef Goebbels den Endsieg:

Goebbels: " Der Krieg neigt sich seinem Ende zu. Der Wahnsinn, den die Feindmächte über die Welt gebracht haben, hat seinen Höhepunkt bereits überschritten. Er hinterlässt in der ganzen Welt nur noch ein Gefühl der Scham und des Ekels. Die perverse Koalition zwischen Plutokratie und Bolschewismus ist am Zerbrechen. Das Haupt der feindlichen Verschwörung ist vom Schicksal zerschmettert. "

Die Realität sieht anders aus. Als Goebbels diese Rede hält, kämpft die Rote Armee bereits in Berlin. Einige Tage später, am 25. April, überwindet die 2. Belorussische Front auf breiter Linie die untere Oder. In Greifswald verfolgt man die Entwicklung mit äußerst angespannter Aufmerksamkeit. Mitglieder der Stadtverwaltung und der Universität schmieden schon seit längerem Pläne, wie Greifswald vor der Zerstörung zu bewahren sei. Universitätsdirektor Carl Engel schreibt in seinem Tagebuch:

" Ich hab immer wieder darüber nachgedacht, wie es wohl zu machen wäre, im gegebenen Moment das schwerste Hindernis - den Kreisleiter (der NSDAP) und seinen Stab - mit Gewalt zu beseitigen, um die Stadt dann kampflos (an die Rote Armee) übergeben zu können. Dazu brauchte ich aber eine Handvoll entschlossener Männer sowie Waffen. Bei der weitgehenden Bespitzelung gerade der Universität und ihres Lehrkörpers war ein planmäßige Vorbereitung völlig unmöglich. Alles musste auf eine entscheidende Handlung im letzten Augenblick abgestellt werden. "

Engel war selbst jahrelang engagiertes NSDAP-Mitglied gewesen. Er hatte die Nazi-Propaganda mit Vorträgen an der Universität unterstützt und sich an der ideologischen Schulung der NSDAP Mitglieder beteiligt. In den letzten Kriegsjahren gewann er allerdings deutlichen Abstand zu seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen. Wendepunkt für ihn und viele andere Greifswalder Bürger war die verlorene Schlacht um Stalingrad. Mehrere hundert Soldaten und Offiziere - es handelte sich um das Greifswalder Stammregiment - waren umgekommen oder in Gefangenschaft geraten. Viele junge Frauen hatten ihre Männer, Familien ihre Söhne verloren. In Greifswald wandte sich die Stimmung immer mehr gegen den Krieg und seine faschistischen Repräsentanten. Es gab kaum Parteibeitritte mehr. Einige oppositionell orientierte Zirkel formierten sich:

"Ich würde als erste Gruppierung nennen einen Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialdemokraten, einem Pastor, Gottfried Holz, und weiteren aus dem bürgerlichen Lager. "

Der Historiker Ernst-Joachim Krüger.

"Die treibende Kraft war hier der Kommunist Hugo Pfeiffer, mit ihm Justizrat Lachmund, ehemals SPD-Mitglied. "

Tatsächlich war in Greifswald eine Zelle des "Nationalkommitees Freies Deutschland" aktiv. Das von Exilkommunisten und Kriegsgefangenen in der Sowjetunion gegründete Kommitee wollte einen raschen Friedensschluss. Aus Berlin war der kommunistische Arbeiter Hugo Pfeiffer mit dem Auftrag gekommen, eine solche Gruppe in Greifswald aufzubauen. Über weltanschauliche Grenzen hinweg - auch der konservative Anwalt Walter Graul gehörte zum engsten Kreis - konspirierte diese Zelle gegen die NSDAP.

"Das konnte nur durch eine konspirative Propagandatätigkeit von Mund zu Mund, erstmal von Mann zu Mann, von Frau zu Frau vorgenommen werden, aber je länger Krieg andauerte, je aussichtloser die Situation wurde , das erkannten viele, je mehr wurde Boden gelockert, dass man offenes Wort zu anderen sagen konnte. "

Über Oberjustizrat Hans Lachmund bestanden zahlreiche Verbindungen in die Greifswalder bürgerliche Gesellschaft hinein. Viele, die aus der Zeit vor Hitler noch über Ansehen und Einfluss verfügten, waren jetzt bereit, sich gegen die NSDAP zu stellen. Zum Beispiel in der Universität, aber auch in der Stadtverwaltung: der liberal gesinnten Stadtrat Siegfried Remertz und Bürgermeister Schmidt. Der Oberbürgermeister allerdings, Träger des goldenen Parteiabzeichens, stand loyal zum Regime.
Eine organisierte Oppositionsarbeit war natürlich nicht möglich. Man blieb diskret und traf sich beispielsweise zu Spaziergängen oder zum Herrentee. Dass Lachmund für das Nationalkommitee Freies Deutschland arbeitete, wussten die wenigsten. Christine Fritze aus Greifswald war zum Kriegsende 13 Jahre alt:

"Ich weiß aus Erzählungen, (-) dass sie dort literarische Abende bei Lachmunds durchgeführt haben, wo auch mein Schwiegervater aufgetreten ist, (-) mit Vorträgen über Gerhardt Hauptmanns Dramen usw. Über diese Kontakte sind sie natürlich auch in politische Gespräche gekommen, mein Schwiegervater hat dann natürlich keinen Hehl aus seiner antifaschistischen Haltung gemacht, war aber immer sehr vorsichtig. "

Je näher die Front rückte, je klarer wurde das Ziel des Greifswalder Netzwerks: Die Zerstörung der Stadt sollte verhindert und Menschenleben gerettet werden. Letztendlich galt es, den Kampfkommandanten zu gewinnen, denn ihm oblag die alleinige militärische Befehlsgewalt. Der allerdings unterstand dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Befehl:

"Alle Städte müssen bis zum Äußersten gehalten und verteidigt werden. Kampfkommandanten, die diesem Befehl nicht Folge leisten, sowie alle zivilen Amtspersonen, die ihn davon abspenstig zu machen versuchen oder ihn behindern, werden zum Tode verurteilt. "

Schon seit Wochen kursierte in Greifswald das Gerücht, dass die Stadt zur Lazarettstadt erklärt und dadurch jegliche Kampfhandlung verhindert werden würde. Dieses Gerücht war vom Nationalkommittee Freies Deutschland bewusst lanciert worden. Die Bevölkerung griff es mit großem Interesse auf.
In dieser Stimmung fasst sich Carl Engel ein Herz und arrangiert ein Treffen mit dem Kampfkomandanten Rudolf Petershagen. Aber wie es der Zufall will, ist auch der Kreisleiter der NSDAP gerade beim Kampfkommandanten vorstellig. Engel erkundigt sich nach der militärischen Lage:

"Auf meine Frage (-) erklärte mir Oberst Petershagen, (-) dass er nur die inner Linie - den Stadtwall - besetzen könne, da ihm zur Verteidigung des äußeren Gürtels Menschen und Waffen fehlten. Dass demnach die Russen in Greifswald nur einige Stunden aufgehalten werden könnten.
Ich gab demgegenüber zu bedenken, dass ein so kurzer Aufenthalt doch wohl kaum die Gefährdung der zahllosen Verwundeten und die Zerstörung der alten Kulturwerte der Universität (-) rechtfertigen könne. "

Der Kampfkommandant gibt auf dieses Ansinnen eine ausweichende Antwort. Hätte er sich strikt an den Wehrmachtsbefehl gehalten, hätte er Engel auf der Stelle erschießen müssen.

Kilometer weiter südöstlich: In Anklam ist am Morgen des 28. April der Gefechtslärm aus dem nahe gelegenen Ducherow deutlich zu hören. Die Ankunft der Roten Armee ist nur noch eine Frage von Stunden. Der damals neunjährige Peter Koepke flieht mit seiner Mutter und Großmutter aufs Land:

"Wir hatten uns zum 28. April startklar gemacht, wir wurden abgeholt von einer Kutsche, bevor wir losfuhren, schaute meine Mutter noch einmal auf den wunderbaren Turm der Nicolaikirche, die damals noch stand, und sah aus dem Turm eine weiße Fahne hängen und sagte: Du hör zu, die Stadt wird kampflos übergeben, wir bleiben in Anklam. Eine halbe Stunde später war die Fahne verschwunden. "

Zwei Anklamer Arbeiter - Max Grosch und Karl Bröker - haben am Sonnabend den 28. April morgens um 3.00 Uhr den Turm der Nicolaikirche bestiegen, bewaffnet mit einem frischen Bettlaken, einer Akkulampe und einer Pistole. Die beiden hatten in Anklam zu einem Widerstandszirkel gehört, über den wenig bekannt ist. Helga Stepel ist Groschs Tochter:

"Wir wussten, die Soldaten sind raus aus Stadt, es kann nichts mehr passieren, und denn haben die die weiße Fahne gehisst und die waren nicht abgezogen, die sind erst am morgen abgezogen, und wie es hell wurde, haben sie die weiße Fahne gesehen, sonst wär Anklam heil geblieben. Wär ja nichts mehr passiert. Und dann gings ja los. "

Nachdem die Nazis die weiße Fahne wieder runtergeholt haben, macht sich in Anklam Panik breit. Fast die gesamte Bevölkerung - ganz überwiegend Frauen und Kinder - flieht vor der Front in die umliegenden Dörfer und Wälder.
Auch die Kreisleitung der NSDAP verlässt das sinkende Schiff. Und setzt zuvor das eigene Verwaltungsgebäude in Brand. Nur die Jugendlichen sollen dableiben und als Werwölfe die Stadt verteidigen. Zum Beispiel der 16-jährige Bruder von Ilse Schult:

"Waffen hatte sie keine, sie hatten Spaten und Haken und Knüppel alles, nur was so in die hand gegeben wurde, und der NSDAP-Kreisleiter, Fritsch hieß er damals, fuhr im Wagen vollgeladen mit seiner Familie vor und verabschiedete sich mit dem Gruß: Heil Hitler, nun verteidigt ihr Anklam gut, dann ist er mit seiner Familie und dem wagen weggefahren, und die Kinder standen da und wussten nicht mehr, was sie machen sollten und einige hatten Angst und weinten. "

Verschreckte 15- und 16-jährige mit Knüppeln, dazu die Männer vom Volkssturm, die zuvor bei allen Musterungen durchgefallen waren. Ein paar eilig geschaufelte Panzergräben, eine Lore mit Holzstämmen vor dem gotischen Stadttor - so sollte Anklam den Russen trotzen.
Die BBC versucht mit deutschsprachigen Sendungen Bevölkerung und Armee zum Aufgeben zu bewegen. Aus einer Satiresendung mit Kurt und Willi:

" Sie haben genau ausgerechnet, wie lang die Russen brauchen werden, um unsere Barrikaden und Panzerfallen zu nehmen. Und wie lange soll das dauern? Zwei Stunden und drei Minuten. Zwei Stunden und drei Minuten, was soll das heißen? Na, ganz einfach: zwei Stunden werden sich de russischen Panzermannschaften vor Lachen den Bauch halten, wenn sie die Hindernisse sehen, und in drei Minuten werden sie mit ihnen fertig sein. "

Am frühen Morgen des 29. Aprils beginnt der Angriff der Roten Armee auf Anklam. Peter Koepke ist mit seiner Familie nach Ramnitzow zu einer Bekannten geflohen, die auf einem Gut lebt. Gemeinsam mit seiner Mutter und anderen Familien steigt er auf einen Hügel, um die Kämpfe um Anklam zu beobachten:

"Wir sahen in der Richtung, wo Anklam lag, plötzlich weißen Dampf aufsteigen, der sich nachher wandelte in eine riesen-schwarze Rauchwolke über Anklam und dann am Abend den ganzen Himmel rot erhellt.
Wir sahen aber auch, dass von überall her deutsche Soldaten ziellos flüchteten, (-) es war also ein völliges Durcheinander, nichts von Verteidigung zu sehen. (-) Dann plötzlich ein Geheule von Flugzeugen über uns, ein deutscher Angriff auf Anklam, der die nun von Sowjets besetzte Stadt, den Nachschub stören sollte. der Bombenkrieg war doch noch nah. "

Anklam brennt - in Greifswald herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Professor Carl Engel erfährt, dass der Kampfkommandant Rudolf Petershagen schon seit längerem die Stadt gewaltfrei übergeben will. Bereits nach seiner Verwundung 1942 in Stalingrad überkamen Petershagen Zweifel an der faschistischen Doktrin vom Endsieg. Aus einem Interview von 1966:

"Wir mussten bitteres Lehrgeld zahlen, bis wir erkannten, wie wir belogen und betrogen waren. Bei mir reichten die Erkenntnisse, um mich noch kurz vor zwölf von dem verbrecherischen Krieg zu trennen. "

Petershagens Frau Angelika war die erste, die in seine Pläne eingeweiht wurde. Aus einem Interview von 1979:

"Wie es klar war, dass er wieder eine dienstliche Verwendung finden sollte, sagte er: Das Schlimmste, was man werden kann, ist Kampfkommandant. man ist dazu verpflichtet, die Stadt in Schutt und Asche legen zu lassen und man kann es doch gar nicht verantworten. Unterdessen hatte mein Mann in seinem Stab schon getastet, wen er brauchen könnte und wen nicht und als ersten den sehr viel älteren oberst Doktor Wurmbach. das gab ihm eine ungeheure moralische Stütze, dass dieser 20 Jahre ältere Mann rückhaltlos zu ihm stand. "

Neben Oberst Wurmbach gab es noch einen dritten im Bunde: Petershagens Adjudant Johann Schönfeld. In einem Radiointerview von 1985 schildert er, wie brisant die Lage damals war:

"Bei der ganzen Vorbereitung war es ja so, dass wir ein großes Hindernis vor uns hatten und das war die Kampfgruppe, die Anklam verteidigt hatte, mit unterstellten schweren Waffen, und vor allen dingen war auch ein Pionierzug dabei, und die waren Tage vorher hier in Greifswald und haben alles zum Sprengen vorbereitet. An jeder Brücke lagen vier Bomben, die Kirchen waren rundum mit Benzinfässern und Strohballen versehe. "

Am Abend des 29. Aprils kommt es zur letzten Einsatzbesprechung beim Kampfkommandanten. Universitätsdirektor Carl Engel, Professor Gerhardt Katsch, der Leiter der örtlichen Kliniken, sowie Oberst Wurmbach sollen als Parlamentäre der Roten Armee entgegen fahren und die Bedingungen für die Kapitulation verhandeln Die Russen befinden sich bereits im Anmarsch auf Anklam:

"Unsere Erwägungen und Besprechungen über die Einzelheiten zogen sich sehr in die Länge, weil wir andauernd gestört und unterbrochen wurden. Fast ununterbrochen klingelte das Telefon, erwarteten Dienststellen und Privatpersonen Auskünfte, Anweisungen und Befehle. Es ging zu wie in einem Bienenstock vor dem Schwärmen. "

Eiligst und ohne Aufsehen zu erregen müssen zwei Wagen organisiert werden, außerdem zwei Dolmetscher. Die Kapitulationsvorschläge werden mit Bleistift auf einem Zettel notiert. Frau Petershagen bringt noch ein Bettlaken und einen Besenstiel vorbei. Es vergehen noch anderthalb Stunden, bevor die Mannschaft vollständig und die Fahrzeuge abfahrbereit sind.

"Als ich die Zivilisten holen sollte, ahnte ich schon, dass es sich nicht um eine Fahrt gegen einen Feind handeln konnte. Völlig aufgeklärt war ich, als dann zu Beginn der Fahrt, die etwa zwischen elf und halb zwölf nachts losging, eine weiße Fahne in meinen Wagen gelegt wurde. "

Ein Wettlauf mit der Zeit, der für die Parlamentäre durchaus tödlich enden kann. Aber es gibt nichts zu verlieren und die Wagen fahren endlich los.

Währenddessen stauen sich auf den Straßen Richtung Westen die Flüchtlingstrecks. Auch der Lkw mit der Familie und den Nachbarn von Helga Stepel steckt fest:

"Gegen 11 Uhr kamen Flugzeuge, Russen und Amerikaner, und die haben dann die Landstraßen beschossen, die Frauen liefen mit ihren Kindern, wenn Wäldchen in der Nähe, liefen los, das waren richtige Schweine, haben hinterher geschossen ohne Rücksicht, ich habe den Menschen in der Kanzel erkennen können, als wenn wir uns gegenübersitzen, so tief kamen die runter, die haben genau gesehen, dass das Frauen und Kinder waren, keine Rücksicht genommen, deswegen muss ich sagen, der Amerikaner war nicht besser wie Russe auch. "

Auch Peter Koepke macht auf dem Gut in Ramnitzow schreckliche Erfahrungen. Russische Soldaten und entlassene Kriegsgefangene haben seine Mutter und andere Frauen in den Räumen des Gutshauses vergewaltigt. Am nächsten Morgen betritt er mit anderen Flüchtlingskindern das offen stehende Gebäude: Sie finden die Gutsleute mit ihren drei minderjährigen Töchtern - an der Decke hängend. Natürlich hat der Neunjährige keine Ahnung, was passiert ist:
"Dass meine Mutter was besonderes war, erfuhr ich dadurch, dass am nächsten Rag ein Pole kam und auf mich ein Pistole richtete. Ich sollte sagen, wo meine Mutter sei, sonst würde er mich erschießen, was mit meiner Mutter passieren sollte wusste ich nicht, aber ich wusste, dass sie in Gefahr war, denn ich sah sie neben mir unterm Bett liegen, der Pole sah nicht. "

Offiziell waren den russischen Soldaten Vergewaltigungen, Plünderungen oder gar Morde strengstens verboten - obwohl beim Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion Millionen russischer Zivilisten umgekommen sind. Die Rote Armee wollte als Befreierin gesehen werden und sich keine Feinde in den besetzten Gebieten schaffen. Aber in der chaotischen Kriegssituation sah die Realität an vielen Stellen anders aus. In Anklam haben sich nach dem Einmarsch der Russen fast 600 Menschen das Leben genommen, darunter viele vergewaltigte Frauen. Die meisten davon haben sich in der Peene ertränkt.

"Halb rechts vor uns glühte der Nachthimmel in blutig rotem Feuerschein. "

Aus dem Tagebuch von Carl Engel. Inzwischen befinden sich die Parlamentäre auf der Straße nach Anklam:

"Als wir den Hang zum Peene-Urstromtal hinabfuhren, sahen wir, dass es die in hellen Flammen stehende Stadt Anklam war. Ich habe sowohl im vergangenen wie in diesem Kriege viel Schauriges und grausige Zerstörungen gesehen, aber nichts, was dem Inferno, der feurigen Hölle von Anklam vergleichbar wäre. "

Endlich treffen die Parlamentäre auf russische Soldaten. Man geleitet sie in die brennende Stadt. Das russische Oberkommando befindet sich in den südöstlichen Außenbezirken. Mit Interesse wird das Kapitulationsangebot angenommen. Man einigt sich auf drei Bedingungen:

1.) es darf nicht geschossen werden
2.) es darf nichts gesprengt werden
3.) es darf nicht geplündert werden

Für drei Uhr morgens war der Angriff auf Greifswald geplant. Per Funk werden die gegnerischen Armeen in letzter Minute gestoppt. Das Greifswalder Netzwerk sorgt dann für den reibungslosen Ablauf vor Ort: Vorgefertigte Sprengsätze müssen entfernt, kampflustige Hitlerjungen eingefangen und Plakate gedruckt werden. Während Anklam in Schutt und Asche versinkt, wird Greifswald gerettet.