Zerrissen wie nie zuvor

Von Tilmann Kleinjung · 17.03.2011
Am 17. März 2011 wird Italien 150 Jahre alt und das muss gefeiert werden - nach monatelanger Debatte ordnete die Regierung dafür einen arbeitsfreien Tag an. Einige Regionen hatten aber schon eigenmächtig verfügt, die Schulen geschlossen zu halten. So viel zur Einheit Italiens am Jahrestag der Einigung Italiens.
Der kleine Ort Pizzo liegt ganz im Süden Italiens. Fast an der Spitze des Stiefels, malerisch in einer Bucht am Meer. Berühmt ist Pizzo für sein Eis, das in zahlreichen Cafés selbst produziert wird. Und für seine Thunfischkonserven. Hier in Pizzo am Meer hat vor ziemlich genau 100 Jahren Giacinto Callipo eine Thunfisch Fabrik gegründet. In ganz Italien bekannt für nicht ganz preiswerten, aber hochwertigen Thunfisch.

Im Hof der Firma wird die neueste Lieferung entladen. Große Thunfische, bis zu 100 Kilo schwer. "Die werden nun nach Qualität und Größe klassifiziert", sagt Produktionsleiter Giacomo Carità. Schon lange kämen die Fische nicht mehr aus einheimischen Gewässern. "Dies sind Gelbflossenthunfische aus dem indischen Ozean", erklärt Carità. Und alle weiteren Fragen mögen wir doch bitte dem Chef stellen.
Den treffen wir in seinem Büro, im zweiten Stock des kleinen Firmengebäudes. Filippo Callipo leitet die Firma heute in der vierten Generation. Ein klassischer Familienunternehmer, kein glatter Manager - Pulli statt Anzug. Callipo ist viel beschäftigt und hat trotzdem Zeit für den Besuch aus Deutschland.

"Wir produzieren hier Thunfisch, in Öl, in Konservendosen. Die Firma ist ununterbrochen in Familienbesitz. Auch wenn sie heute eine Aktiengesellschaft ist, bleibt diese Kontinuität."

Dazu passt die Hartnäckigkeit, mit der Callipo an seiner Heimat, der Region Kalabrien festhält. Hier im Armenhaus Italiens, wo die Arbeitslosenzahlen am höchsten und die Chancen für junge Leute am geringsten sind, investiert Filippo Callipo in eine bessere Zukunft. Er hat einen Volleyballverein übernommen und in die erste Liga geführt, er hat neue Unternehmen gegründet: eine kleine Eisfabrik und ein Ferienressort. Er kämpft gegen die Mafia und engagiert sich in der Politik mit einer Initiative namens: "Io resto in Calabria". Ich bleibe in Kalabrien.

"Sie haben fünf, sechs Schüsse mit der Pistole auf die Tür meines Bürogebäudes abgefeuert. Und dann hat mich ein Journalist gefragt: Herr Präsident, nach dieser Tat werden sie doch sicher Kalabrien verlassen? Und dann habe ich gesagt: Nein, ich bleibe in Kalabrien."

Callipo nennt die Täter nicht beim Namen. Doch es ist klar, wer den aufrechten Unternehmer mit Schüssen einschüchtern wollte: die 'Ndrangheta. So heißt die organisierte Kriminalität, die Mafia in Kalabrien. Von hier aus betreibt sie ihre Drogen- und Waffengeschäfte in ganz Europa und Süd- und Mittelamerika. Und die Heimat will sie klein, arm und abhängig halten, gemeinsam mit schwachen Politikern und korrupten Unternehmern.

"Die schlechte Politik, die Unternehmer, die 'Ndrangheta wollen, dass Kalabrien eine Region "ohne alles" ist. Denn so können sie uns leiten und lenken, wie sie wollen."

Mit seiner Initiative wehrt sich Filippo Callipo gegen diesen schlechten Dreiklang und hofft auf Unterstützung aus dem Rest Italiens. Wie es scheint, vergebens. Italien lässt Kalabrien am ausgestreckten Arm verhungern. Seit Jahren verspricht Rom, die Autobahn von Neapel nach Reggio Calabria fertig zu bauen. Doch die Dauerbaustelle erlaubt in der Regel nur Tempo 80. Es fehlen ein richtiger Flughafen und eine schnelle Eisenbahnverbindung. Von Rom nach Reggio Calabria braucht man etwa 7 Stunden. Von Rom nach Mailand 3 Stunden 20 Minuten, obwohl diese Strecke in den Norden nur unwesentlich kürzer ist.

"Hier bei uns gibt es nicht diese positive Ausstrahlung und diese Vorzeigeprojekte, um die Lebensbedingungen in Kalabrien etwas zu verbessern. Im Norden sind sie schneller, glaubwürdiger, planmäßiger und so nutzen sie die Mittel, die wir nur auf dem Papier sehen."

Süditalienisches Selbstmitleid oder eine realistische Selbsteinschätzung? Tatsächlich begegnet einem oben im Norden eine andere Welt, vielleicht keine schönere, aber eine erfolgreichere, lebendigere, kräftigere. Die Stadt Pontida ist keine Schönheit, sie liegt an der SS 342, die vom Comer See nach Bergamo führt. Eine viel befahrene Straße - wie ein Sinnbild für den prosperierenden italienischen Norden.
"Das Bruttoinlandsprodukt des Nordens, der Arbeitsmarkt verglichen mit dem Rest Europas zeigen dass die Lombardei und der Veneto zusammen reicher sind als Belgien, Holland oder Gegenden Deutschlands."

Pierguido Vanalli ist seit 2004 Bürgermeister der Stadt Pontida. 2009 wieder gewählt mit überzeugender Mehrheit. Er ist Leghista, soll heißen: Mitglied der Lega Nord. Das ist die Klientelpartei für Italiens reichen Norden, die hier die Städte und Regionen dominiert und auch im italienischen Parlament mit einer stattlichen Fraktion vertreten ist. Die Position der Lega Politiker ist eindeutig: Schluss mit den Hilfen für den armen Süden Italiens.

"Unser Land hat in den letzten 40 Jahren unter einer politischen Klasse gelitten, die mit einem "Gehirn des Südens" dachte. Die die Probleme des Nordens nicht kannte und bis heute nicht kennt. Und so ist ein Italien entstanden, das wir bekämpfen und das wir durch Föderalismus verändern wollen."

Pontida im Norden hat für die Geschichte der Lega eine besondere Bedeutung, nicht nur weil hier der Gründer der Lega Nord und deren Vorsitzender, Umberto Bossi, schon einmal Stadtrat war. Im Jahre 1167 gründete sich in der Benediktinerabtei von Pontida die Lega Lombarda, ein lombardischer Städtebund, der gegen den deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa erfolgreich mobil machte.

"Diese Befreiungsbewegung gegen den Feind wurde während des Risorgimento ausgenutzt. Um die Bevölkerung im Norden daran zu erinnern, dass sie sich damals zusammengeschlossen hatte, um ein geeintes Italien zu erreichen."

Das Wort "ausgenutzt" zeigt, dass Bürgermeister Vanalli diese Lesart der Geschichte nicht teilt. Der Risorgimento, die italienische Einheitsbewegung, soll nicht Teil der Geschichte seines Ortes sein. Wenn überhaupt dann ist die Lega Nord der legitime Nachfolger der Lega Lombarda. Das Wappen der Lega Nord ziert ein lombardischer Ritter mit gezücktem Schwert, daneben steht "Lega Nord – Padanien".

"Padanien ist die geographische Bezeichung für die Gegend, durch die der Fluss Po fließt. Links und rechts des Pos ist padanisches Gebiet. Wir haben das in die Politik übersetzt. Eine geographische Bezeichnung, die später eine politische Bedeutung bekam."

Die Lega Nord träumt von einem unabhängigen Padanien im Norden Italiens. Das ist eine Großregion, die von der Quelle des Po an der italienisch-französischen Grenze im Westen bis zu seiner Mündung in die Adria im Osten reicht. In Padanien organisiert die Lega Nord eigene padanische Miss-Wahlen, padanische Fußballturniere und padanische Medien, wie Radio und Fernsehen. Mehr oder weniger offen träumen Politiker der Lega von der Trennung vom Rest Italiens. Dessen Symbole die Trikolore, die Landesfahne und die Hymne lehnen sie offen ab.

Mit einem gewissen Stolz erklärt Pierguido Vanalli, dass er den Text der italienischen Hymne nicht kann, nur die erste Zeile aus dem Fernsehen bei Fußballspielen. Mit demselben Stolz hat der Vorsitzende der Lega, Umberto Bossi, schon einmal der grün-weiß-roten Fahne Italiens den Mittelfinger entgegengereckt. Und den arbeitsfreien Feiertag zur italienischen Einigung vor 150 Jahren haben die sezessionistischen Politiker der Lega bis zuletzt massiv bekämpft.

"Unsere Rolle ist die desjenigen, der dem Kind sagt, dass der Kaiser keine Kleider anhat. Solange ich mich erinnere, hat man außer beim Fußball die italienische Hymne nie gesungen. Und jetzt, wo es eine Bewegung gibt, die sagt, der Kaiser hat keine Kleider, beschimpfen uns alle als hässlich und gemein. Aber wir sagen die Wahrheit: bis gestern hat all das niemanden interessiert."

Der Philosoph Massimo Cacciari, ehemaliger Bürgermeister Venedigs und alles andere als ein Freund der Lega, gibt dem in gewisser Weise Recht, wenn er sagt:

"Tatsächlich gab es nie einen italienischen Patriotismus, das war eine Erfindung der politischen und kulturellen Eliten während des Risorgimento und dann ein faschistischer Mythos."

Kein Wunder, dass aus dieser Geschichte heraus ähnlich wie in Deutschland der Nationalgedanke, der Patriotismus verdächtig geworden ist. "Die große Mehrheit der Italiener", sagt Cacciari, "schert sich einen Dreck ums Vaterland".

"Italien ist die Gemeinschaft von Mini Vaterländern, sagte bereits Giacomo Leopardi. Von "Mini Lokalismen". Hauptsache, meiner Stadt geht es gut. Aber nicht mehr. Schon die Region ist eine viel zu abstrakte Größe."

"Mein Bezugspunkt ist die Gemeinde, die Stadt", sagt der Bürgermeister von Pontida Pierguido Vanalli. Die kleinste gemeinsame Einheit tritt an die Stelle dessen, was man im Deutschen als Heimat bezeichnet.

"Italiener glauben alle, sie haben ein ganz schwaches Nationalgefühl. Vom Ausland aus gesehen muss man das nicht unbedingt teilen diese Einschätzung. Der Siegeszug italienischer Kultur, italienischer Küche, italienischen Designs, italienischer Architektur wird im Ausland durchaus als gesamtitalienisch wahrgenommen. Und nicht auf einzelne Regionen und Städte allein bezogen. Wenn die Italiener sich im Ausland treffen, dann ist auch die Verständigung und das Zusammengehörigkeitsgefühl durchaus vorhanden, über alle Grenzen hinweg."

Manchmal hilft der Blick von außen. Professor Lutz Klinkhammer forscht und unterrichtet am Deutschen Historischen Institut in Rom. Dabei hat er festgestellt: der italienische Einheitsstaat, so wie er vor 150 Jahren errichtet wurde, hat einen Konstruktionsfehler. Er orientierte sich am zentralistischen französischen System. Heute gilt das als Defizit und alle (nicht nur die Lega Nord) schwärmen vom deutschen Föderalismus. Das heißt aber noch lange nicht, dass der italienische Nationalstaat am Ende sei. Dass in Italien gar belgische oder spanische Verhältnisse drohten.

"Ich sehe strukturelle Probleme. Aber die mentalen Unterschiede zwischen Nord und Süd sind doch geringer als man das wahrnehmen möchte."

In der Wahrnehmung Italiens gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Während der reiche Norden am liebsten für sich bleiben würde, gibt es im Süden des Landes den großen Wunsch nach einer Wiedervereinigung Italiens. In Pizzo, dem Ort an der Stiefelspitze, träumt Unternehmer Filippo Callipo davon, dass in Italien, so wie in Deutschland 1989, die Mauer fällt.

"Der totale Bruch war das Aufkommen der Lega. Eine Lega, die heute sagt: ich erkenne den Tag der nationalen Einheit nicht an, wir werden nicht feiern und nicht die Hymne singen. Wenn’s nach mir ginge, müsste so ein Italiener ins Exil geschickt werden, ich weiß nicht wohin. Denn es ist unmöglich, dass Du als Italiener alle Dienste des Landes in Anspruch nimmst, dann aber sagst: Ich fühle mich als Padanier."