Zerfallen aller Sicherheiten

Rezensiert von Helmut Böttiger · 28.12.2005
Kevin Vennemann gelingt es in "Jedenew" das Zerfallen aller Sicherheiten darzustellen, in der Zeit und Raum, Frieden und Krieg sowie Leben und Tod auf raffinierte Weise ineinander geblendet werden.
Ein schmales Büchlein, in der vielgestaltigen Taschenbuchreihe "edition suhrkamp". Es ist leicht zu übersehen. Es ist nicht als eine Neuerscheinung gekennzeichnet, von der man sich viel verspricht. Das Romandebüt des 1977 in Westfalen geborenen, mittlerweile in Berlin lebenden Kevin Vennemann ist im November erschienen, außerhalb der Saison. Doch schon bei den ersten Sätzen merkt man auf, und schon nach den ersten Seiten ist klar: Dies ist der mit Abstand beste literarische Text, der in den letzten Jahren von einem unter Dreißigjährigen erschienen ist.

"Nahe Jedenew" verblüfft in vielerlei Hinsicht. Dieser Roman besteht nicht aus den knappen, schmallippigen Hauptsätzen, mit denen man zurzeit üblicherweise debütiert. Dieser Roman besteht nicht aus den in den grassierenden Schreibwerkstätten und Literaturstudiengängen üblicherweise gelehrten kurzen Momenten in Präsens. Man kann auch nicht sofort erkennen, ob er in der Gegenwart spielt. Aber er zieht den Leser sofort hinein in ein rätselhaftes Gewebe aus Sätzen, aus Zeiten, aus Personen, in verschlungene Seitenstränge und Nebensatzkonstruktionen.

Dabei ist er sehr leicht zu lesen. Er schafft eine äußerst suggestive Atmosphäre. Er birgt ein Geheimnis, das im Lauf des Textes immer größer zu werden scheint; man kann sich ihm nur assoziativ annähern. Eines aber ist sofort klar: hier ist einer am Werk, der virtuos mit der deutschen Sprache umgehen kann, ohne dass diese Virtuosität zum Selbstzweck wird. Hier will einer etwas sagen. Aber die Botschaft ist nicht eindeutig. Sie besteht nicht aus Parolen. Die Botschaft heißt: Hier geht es um Literatur.

Wir erleben das Ganze meist aus der Perspektive eines jugendlichen Geschwisterpaars, meistens ist die Rede von einem "Wir". Es handelt sich um eine Art Großfamilie, es gibt zwei oder drei Bauernhäuser, und der am nächsten gelegene Ort heißt "Jedenew". Mit der Zeit fallen auch andere polnisch klingende Ortsnamen, und auch die Personen, die vorkommen, haben polnische Namen. In der Mitte des Textes gibt es eine vage geographische Bezeichnung: Wir befinden uns in der "südlitauischen Heide". Man spürt auch eine Bedrohung, die Familie, um die es geht, sieht sich plötzlich von feindlichen Bauern umstellt, obwohl sie jahrelang mit ihnen nachbarschaftlich zusammengelebt haben.

Die Zeit, in der das Ganze spielt, könnte Ende der dreißiger Jahre sein. Es könnte im Zweiten Weltkrieg sein. Dass die Familie jüdisch ist, wird nicht ausdrücklich gesagt. Überhaupt scheint es nicht um eine konkrete Zeit und einen konkreten Ort zu gehen. Manchmal wechselt mitten im Satz die Zeitebene. Fern Zurückliegendes und unmittelbar Gegenwärtiges gehen fließend ineinander über, Sommer- und Winterszenen fallen in eins, glückliche Kindheitsbilder und aggressive Verfolgung scheinen ein- und dasselbe zu sein.

Es geht um das Ende einer Kindheit, und es werden Gefühle evoziert, die unabdingbar von heute sein können. Dies sind keine Szenen aus einer abgeschlossenen Vergangenheit. Wie Kevin Vennemann diesen Eindruck evoziert, ohne plakativ oder pathetisch werden zu müssen, ist ein außerordentliches Kunststück. Die rhythmischen Sätze, die sich immer mehr zu verdichten scheinen, die Gleichzeitigkeit von vielen verschiedenen Erlebnissen und Erfahrungen: das ist ein absolut zeitgenössisches Bewusstsein, das ist das Wahrnehmungsraster von heute. Dieses Buch ist mehr als eine bloße Talentprobe. Es ist ein großes literarisches Versprechen.


Kevin Vennemann: Nahe Jedenew
Roman. edition suhrkamp.
142 Seiten, 8 Euro.