Zerbrechliche Wesen

23.11.2008
Oft wiegen sie nicht mehr als zwei Pfund, ihre Organe, ihre Gliedmaßen sind winzig klein und zerbrechlich: die Frühchen. In Deutschland kommen 60.000 Kinder pro Jahr vor dem eigentlichen Geburtstermin auf die Welt. Agathe Israel und Björn Reißmann sind in ihrem Buch "Früh in der Welt" der Frage nachgegangen, was eine Frühgeburt für Kinder und für Eltern bedeutet.
Rund jedes zehnte Kind kommt in Deutschland zu früh auf die Welt, jedes Jahr sind das etwa bis zu 60.000 Kinder. Zu früh, das heißt in der Medizin, dass die Schwangerschaft weniger als 37 Wochen dauert - normal sind 40 Wochen nach der letzten Regelblutung - oder dass das Kind weniger als 2500 Gramm wiegt. Ab etwa der 23. Schwangerschaftswoche ist ein Säugling auch außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig.

Das sind die Zahlen. Sie aber sind nicht das Thema des Buches "Früh in der Welt” von Agathe Israel und Björn Reißmann. Dieses Buch versucht vielmehr, die Innenwelt der Kinder zu erschließen. Und es fragt darüber hinaus, was in den Eltern dieser Kinder vorgeht und wie angesichts des plötzlichen Bruchs, den eine Frühgeburt in der Beziehung zwischen Mutter und Kind erzeugt, dennoch Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern entstehen kann.

Das Buch ist kein Sachbuch im herkömmlichen Sinn. Es nähert sich seinen Fragen vielmehr auf zwei Wegen. Der eine Weg sind Eindrücke aus systematischer, teilnehmender Beobachtung der Psychoanalytikerin Agathe Israel und anderen Beobachtern, deren Beobachtungsprotokolle wiedergegeben werden. Teilnehmende Beobachtung heißt, dass die Beobachter nichts tun, sondern nur das Kind, dessen Umgebung, die Schwestern und die Eltern auf zweifache Weise wahrnehmen: sowohl mit ihren nach außen gerichteten Sinnen, den Augen und Ohren, wie auch mit einem nach innen gerichteten Blick auf die eigenen Empfindungen, Gefühle und Bilder. Die Beobachterin fragt sich also, was eine innere Kälte, Angst, Verlorenheit oder Freude in ihr über den Zustand des Kindes und seine Beziehung zu den Menschen um es herum aussagt. So versucht sie, das Kind nicht nur zu sehen, sondern auch innerlich zu fühlen. Der zweite Weg sind die Fotografien von Björn Reißmann. Es sind schwarz-weiß Fotos, die, gerade weil sie schwarz-weiß sind und weil der Fotograf auf Blitzlicht und zusätzliche Lampen verzichtet hat, die Atmosphäre einfangen, das Licht, die Grundzüge der Mimik und Gestik der Kinder, die Stimmung.

Auf beiden Wegen wird das Anliegen dieses schön gestalteten Buches vermittelt: dass diese Neugeborenen nicht nur Stoffwechselwesen sind, die versorgt werden müssen, sondern kleine Menschen mit einem inneren seelischen Erleben, so rudimentär dieses ist und so roh es oft über Körperzustände ausgedrückt wird, so fein aber auch über die Bewegung eines Fingers oder ein Lächeln. Das wird nicht nur beschrieben; man kann es auch auf den Fotos entdecken.

Die katastrophalen inneren Zustände, die Todesängste der Frühgeborenen lassen sich nur erahnen, schreibt Agathe Israel. Sie sind im Grunde noch nicht reif zu einem eigenständigen Leben, und dennoch müssen sie es meistern. Aber das gelingt ihnen besser, wenn ein anderer Mensch ihre von Katastrophengefühlen begleiteten Körperzustände aufnimmt, sie mit Sinn versieht und in bearbeiteter Form zurückgibt. Was das heißt, zeigt Israel in ihren Texten. Zum Beispiel wenn eine Mutter wahrnimmt, dass ein Kind Schmerzen hat, das sagt und dann das Kind tröstet. In der Fachsprache heißt dies "Containment”: Die Bezugsperson stellt einen Behälter dar, der die Gefühle des Kindes aufnimmt und verarbeitet. Manche Eltern und Pflegekräfte aber halten die Gefühle des Kindes nicht aus. Eine Mutter schaut ihr Kind aus der Distanz an und sagt "Du bist tapfer”, ohne sich ihm zuzuwenden und es zu berühren. Sie lässt sich von ihrem Kind innerlich nicht berühren. Daher gibt sie keine emotionale Antwort. Und das Kind ist mit seinem Erleben alleine. Ein anderes Kind hat, kaum auf der Welt, schon gelernt, seine Tränen zurückzuhalten, weil sein Schreien keine Antwort findet.

Aber es gibt auch andere Beispiele in diesem Buch: Eltern, die sich ihren Kindern zuwenden, die ihre eigene Angst nicht verleugnen und daher auch die Kinder in ihrer Angst tragen können, die sich die Kinder auf ihren Bauch legen, sie streicheln, mit ihnen sprechen. In den Augen von Israel ist aber genau das lebensentscheidend, damit das Kind und auch die Eltern über den Schock hinwegkommen. Denn beide sind traumatisiert, wenn das Kind vielleicht schon in der 25. Schwangerschaftswoche - kaum lebensfähig - auf die Welt kommt. Dann brauchen sie die Hilfe eines Dritten, der auch den Ängsten der Eltern Worte gibt und ihnen hilft, aus der Erstarrung ihres Schocks herauszufinden. Dass man alles dafür tun sollte, die Frühgeborenen als fühlende Wesen zu verstehen und jeglichen Kontakt zwischen ihnen und den Eltern zu fördern, das ist die menschliche Botschaft dieses einfühlsamen Buches.

Rezensiert von Ulfried Geuter

Agathe Israel, Björn Reißmann: Früh in der Welt
Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2008
132 Seiten, 19,90 Euro