Zerbrechliche Hoffnung

Von Jörg Oberwittler · 13.10.2009
Während jährlich tausende Flüchtlinge beim illegalen Einreiseversuch übers Mittelmeer scheitern, haben ihre Boote es jetzt bis nach Berlin geschafft – in Form einer riesigen Holz-Installation am Brandenburger Tor. Mit ihr will die griechische Künstlerin Kalliopi Lemos wachrütteln.
Abends, 19 Uhr am Brandenburger Tor. Zahlreich wuseln Menschen durch die Dunkelheit, von einer Bühne schallt Musik über den Platz, davor tanzen junge Roma-Frauen ausgelassen. Ein Transparent verrät den Anlass: "Welttag für menschenwürdiges Arbeiten" steht da drauf. Wie passend, um mit der Künstlerin Kalliopi Lemos über die Menschenwürde von Flüchtlingen in Europa zu sprechen. Durchs Tor geht es auf die andere Seite, wo Arbeiter den ersten Teil ihrer Installation "At Crossroads – Am Scheideweg" aus Holzbooten am frühen Morgen aufgebaut haben:

"Wenn der Aufbau fertig ist, können die Besucher unter der Konstruktion durchgehen und von dort ins Innere der Boote schauen. So können sie nachvollziehen, was ich gefühlt habe, als ich sie zum ersten Mal sah: Es ist wirklich ein enger, bedrückender Ort."

Mit dem Kiel nach oben türmen sich die kleinen Boote – von einem Gerüst getragen – 14 Meter in die Höhe. Kalliopi Lemos fand sie vor einigen Jahren im Urlaub auf einer griechischen Insel, zurückgelassen am Strand. Die Boote sehen aus, als ob sie direkt vor dem Tor gestrandet wären. Die gebürtige Griechin zeigt sie ohne jegliche Schönheitsreparaturen: Die Farbe blättert vom Rumpf, die Holzbretter rotten vor sich hin.
Bis zu 40 Menschen saßen in jedem Boot, weiß Kalliopi Lemos von Fischern auf der Insel. Flüchtlinge aus Afrika, Afghanistan und dem Irak, die die Inseln vor der Türkei nutzen, um nach Griechenland überzusetzen:

"Sie kommen quasi nackt bis auf die Knochen nach Europa, denn sie haben meistens all ihr Hab und Gut für die teure Überfahrt verkauft. Zwischen 3000 und 4000 Dollar zahlen sie für einen Transport, der manchmal nur drei Seemeilen dauert."

Überraschend ruhig und sachlich erzählt die engagierte Künstlerin im anschließenden Gespräch von den Schicksalen dieser Menschen. Ihre Installation erscheint auf Betrachter mächtig und mitreißend – sie selbst wirkt eher zurückhaltend, beinahe unscheinbar: schwarze Hose, anthrazitfarbene Strickjacke, dunkles Haar mit einem modischen Kurzhaarschnitt. Wäre da nicht der schwere Goldschmuck, der an ihrem Handgelenk klimpert. Die Holzboote zeigte Kalliopi Lemos bereits in Athen und Istanbul – und war überrascht:

"Viele Leute sind sich des Problems gar nicht bewusst. Obwohl es direkt vor unserer Haustür geschieht, neigen wir dazu, es zu ignorieren. Die Installation will hierfür ein Bewusstsein zu schaffen, Menschen wachzurütteln und ihnen zu verstehen geben, dass wir alle gleich sind und alle die gleichen Bedürfnisse haben."

Das Schicksal der Flüchtlinge ist für die Griechin auch ein persönliches: Ihre Großeltern lebten als griechische Minderheit in der Türkei, wurden in den 20er-Jahren zwangsumgesiedelt. Immer wieder erzählten sie von traumatischen Erlebnissen: von Anfeindungen und Ängsten.

"Meine Großeltern waren damals mit der Situation konfrontiert, in Griechenland ein völlig neues Leben anzufangen. Sie erfuhren dort anfangs sehr viele Demütigungen und Konflikte. Als kleines Mädchen habe ich oft mitgekriegt, wie sie darüber geklagt haben und irgendwie habe ich ihre Traurigkeit damals aufgesogen."

Mit 20 Jahren ging Kalliopi Lemos nach England – der Liebe wegen. Ihr Mann – ebenfalls ein Grieche – fand dort Arbeit. Sie studierte in London Kunst, bekam einen Sohn und eine Tochter. Inzwischen sind ihre Kinder erwachsen. In den Skulpturen, Bildern und Installationen der 58-Jährigen spielen Lebensbrüche sowie die Erlebnisse ihrer Großeltern immer noch eine große Rolle:

"Herzstück meiner Arbeit sind die Übergänge im Leben. Schon der griechische Philosoph Iraklitos sah das Leben als einen Fluss. Ein Teil dieser Lebensreise ist auch der Strom der Flüchtlinge."

Das Leben also ein ständiger Fluss, geleitet von Entscheidungen an Scheidewegen. Daher hat die Griechin auch Berlin als finale Station für ihre Installation ausgewählt:

"Berlin ist das Drehkreuz in Europa. Deutschland liegt im Zentrum dieses Kontinents, ist ein sehr wichtiges Land, wahrscheinlich eines der wichtigsten Länder Europas. Ich habe den Eindruck, dass hier in Berlin viele bedeutende Entscheidungen getroffen werden."

Lemos weiß, dass es der EU nicht möglich sein kann, sämtliche Fremden aufzunehmen. Aber sie will die Menschen für das Thema gewinnen, damit sie nicht länger wegschauen. Doch trotz der politischen Brisanz ihrer Kunst bleibt sie letztlich doch überraschend bescheiden:

"Ich gehe nur auf das ein, was mir in meinem Leben begegnet. Und ich versuche, anderen Menschen dabei zu helfen, ihre Umwelt bewusster wahrzunehmen."

Und das gelingt ihr mit ihrer Installation zweifellos. Wer unter den maroden Holzbooten steht, kann für ein paar Sekunden lang nachvollziehen, wie viel diese Menschen riskieren – und wie zerbrechlich ihre Hoffnung ist.

Service:
Die Installationen von sind vom Kalliopi Lemos sind vom 12. bis 30. Oktober 2009 am Brandenburger Tor in Berlin zu sehen.