"Zensuren haben Auswirkungen, die sehr fatal sind"

Sabine Czerny im Gespräch mit Frank Meyer · 05.10.2010
Sie wurde strafversetzt, weil die Noten ihrer Schüler zu gut waren. Sabine Czerny übt scharfe Kritik am deutschen Schulsystem, der frühen Selektion und dem Leistungsdruck: "Unsere Kinder pauken nur noch, es wird nicht nachhaltig gelernt."
Frank Meyer: Die Lehrerin Sabine Czerny hat interessante Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem gemacht. Ihr Unterricht mit ihren Viertklässlern hat denen Spaß gemacht, sie hatten deutlich bessere Zensuren als andere Schüler, und daraufhin wurde Sabine Czerny strafversetzt. Von den Schulbehörden kam also die Bestrafung, dafür gab es eine Auszeichnung von anderer Seite: Für ihren Einsatz als engagierte Lehrerin wurde sie von der Bayerischen Pfarrbruderschaft mit dem Karl-Steinbauer-Zeichen für Zivilcourage ausgezeichnet.

Über ihre Erfahrungen mit der Schule hat Sabine Czerny ein Buch geschrieben, das gestern erschienen ist, und jetzt ist sie für uns am Telefon. Seien Sie herzlich willkommen, Sabine Czerny!

Sabine Czerny: Guten Tag, Herr Meyer!

Meyer: Frau Czerny, warum wurden Sie denn strafversetzt, obwohl Ihr Unterricht doch gut gelaufen ist, mit überdurchschnittlich guten Noten?

Czerny: Die offizielle Begründung war, dass ich den Schulfrieden gestört hätte, aber ich habe mir ehrlich gesagt nichts anderes zuschulden kommen lassen, als dass meine Kinder in Prüfungen, die in allen Jahrgangsstufen gleich geschrieben worden sind und die ich gar nicht konzipiert habe oder für meine Klasse alleine konzipiert habe, sehr gut abgeschnitten haben.

Meyer: Und die haben gut abgeschnitten, weil Sie ihnen bessere Zensuren gegeben haben, als Sie dürften, oder warum?

Czerny: Ich habe nicht einfach gute Noten verschenkt, sondern das waren Arbeiten, die wirklich in allen Klassen gleich geschrieben worden sind, gleich korrigiert worden sind und in denen sie mehrfach Einserschnitte erzielt haben.

Meyer: Und woran lag es dann, dass Ihre Schüler besser waren als die in den anderen Klassen?

Czerny: Offensichtlich hatten sie diesen Stoff gut verstanden und konnten diese Leistungen zeigen.

Meyer: Und warum wird man dafür bestraft als Lehrerin?

Czerny: Da dürfen Sie nicht mich fragen, da müssen Sie meine Schulaufsicht fragen.

Meyer: Gut, kommen wir zu Ihrem Buch, da vertreten Sie die These, der Grund für die meisten Probleme an unseren Schulen, das seien die Zensuren. Warum das?

Czerny: Das hat im Prinzip viele Gründe. Diese Zensuren haben Auswirkungen, die sehr fatal sind. Das versuche ich auch in meinem Buch ganz deutlich zu schreiben, was diese Notengebung für eine Auswirkung hat auf die Kinder an sich, auf die Familien, was sie für eine Auswirkung hat auf den Unterricht, was sie für eine Auswirkung haben auf die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder und wie sie auch bedingen, dass wir in Deutschland ja immer wieder hören, dass wir ein klassenerhaltendes und ein diskriminierendes System haben, denn die Noten werden relativ vergeben und es gibt keinen konkreten Maßstab. Deswegen können ja solche Vorwürfe auch gemacht werden, ich hätte Noten verschenkt. Das heißt ganz eindeutig, es gibt gar keine Maßstäbe sonst. Es ist wichtig, dass verteilt wird, und es ist deswegen auch wichtig, dass es sozusagen die schlechten Kinder gibt, ohne die würde unser Schulsystem gar nicht existieren.

Meyer: Viele Eltern möchten aber, dass ihre Kinder Noten bekommen, auch damit sie eine Rückmeldung bekommen, damit sie selber wissen, wo steht denn mein Kind in der Schule, muss ich da vielleicht helfen. Was sagen Sie diesen Eltern, wenn Sie keine Noten mehr geben?

Czerny: Sie müssen sehen, dass Noten im Prinzip über was hinwegtäuschen. Sie täuschen zum einen darüber hinweg, dass wirklich alle Kinder gut lernen können und dass alle Kinder fähig sind, durch diese Verteilung. Und wir sind dieses System einfach gewohnt, ich ja auch. Ich bin selber in diesem Schulsystem groß geworden, war Gott sei Dank immer bei den Guten dabei, musste mir deswegen wenig Gedanken machen, aber wir hinterfragen es nicht. Wir hinterfragen nicht, wie diese Noten entstehen, und jeder meint immer noch, Noten geben tatsächlich Auskunft darüber, was ein Kind kann oder nicht, und wir hinterfragen nicht, welchen Zweck das Ganze hat.

Aber Noten sorgen nur für eine Verteilung, sie dienen ausschließlich der Selektion. Sie machen ja kaum eine Aussage. Was sagt denn eine Deutsch-Drei tatsächlich über ein Kind aus? Wir wissen überhaupt nichts über dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Und das Fatale ist trotzdem, dass wir so notengläubig sind, obwohl sie, ja, eigentlich nur schaden. Und das versuche ich ganz deutlich darzustellen, denn ich glaube, wenn man das verstanden hat, dann weiß man, was man tun muss.

Meyer: Und sind aber Noten nicht auch für die Schüler selbst wichtig, damit sie also eine Rückmeldung bekommen, da stehe ich, da muss ich mich mehr anstrengen, da habe ich auch einen Erfolg gehabt und der zeichnet sich in dieser Note ab?

Czerny: Das ist das, wo wir immer getäuscht werden, aber Noten geben im Prinzip keine Auskunft darüber. Schauen Sie, es ist überall … außerhalb haben wir Leistungsmessung, die im Prinzip konkrete Anforderungen stellt. Die Anforderungen bei den Noten sind überhaupt nicht vorgegeben. Es gibt keinen Maßstab, der einer konkreten Leistung eine konkrete Note zuordnet, so dass die Kinder wirklich sehen, was kann ich, was kann ich nicht. Die Aufgaben werden so gestellt und müssen auch so gestellt werden, dass eine Verteilung hervorgerufen wird.

Laut den Vorgaben heißt es zum Beispiel, dass die Note vier gegeben wird, wer die Anforderungen noch erfüllt. Das heißt, alle Kinder, von der Eins bis zur Vier, erfüllen die Anforderungen, und innerhalb diesen Bereichs selektieren wir nämlich. Ab 2,6 dürfen die Kinder nicht mehr auf weiterführende Schulen gehen und werden von höherer Schulbildung ausgeschlossen. Und dann ist es ganz klar, dass sozusagen dieser Run losgeht auf die vorderen Plätze, und das erklärt ganz eindeutig, warum die Eltern daheim mit ihren Kindern lernen, warum dieser ganze Druck entsteht - weil es eben nicht mehr genügt, die Anforderungen zu erfüllen.

Das kann man auch ganz schön darstellen: Ich musste ja früher, als ich angefangen habe vor 14 Jahren, in den ersten, zweiten Klassen nur Lernzielkontrollen schreiben, und Lernzielkontrollen prüfen ab: Hast du verstanden, was ich im Unterricht durchgenommen hatte? Und ich habe in der zweiten Klasse am Ende immer Kinder gehabt - oder also die ganze Zeit durch eigentlich, bei jeder Lernzielkontrolle -, die volle Punktzahl hatten, weil es ging darum: Hast du diese Anforderungen erfüllt? Und es waren vielleicht zwei, drei Kinder, die das nicht hatten, und da konnte man auch sehen, wo waren die Fehler noch, wo waren die Defizite.

Jetzt muss ich in der zweiten Klasse bei dem gleichen Stoff wie von vor 14 Jahren Proben schreiben, und Proben haben ganz andere Grundbedingungen, ist einfach eine andere Form der Leistungsmessung, die nämlich sagen, wenn du das reproduzieren kannst, was du im Unterricht gelernt hast, dann bekommst du eine Vier. Und eine bessere Note bekommst du nur, wenn du mehr Leistung zeigst. Und das macht dieses ganze Heckmeck, was unsere Kinder und unsere Eltern erleben, aus.

Meyer: Und was Sie gerade erwähnt haben, diese Lernzielkontrollen, das wäre quasi die Alternativmethode, die Sie sehr viel besser finden als Zensuren?

Czerny: Also ich glaube, in den unteren Klassen sind Lernzielkontrollen wunderbar, weil da wirklich der Lehrer dann direkt auf die Klasse sozusagen bezogen prüfen kann, was habe ich im Unterricht durchgenommen, was hast du davon verstanden - da sind Lernzielkontrollen sicher sinnvoll. Wenn es dann um tatsächliche Inhalte an sich geht, die auch sozusagen Charakter haben, dass wir sehen sollten, das hat ein Mensch tatsächlich sozusagen errungen, dann sind zum Beispiel so Sachen, wie wir es überall anders haben außerhalb der Schule - Tests in der Form wie zum Beispiel die Sprachtests bei den Erwachsenen.

Da gibt es ganz klare Anforderungsstufen, ein A1, ein A2, ein B1, ein B2, und man zum Beispiel die Stufe A1, man erreicht dann, man lernt weiter, erreicht dann die Stufe A2, und so kann sich jeder sozusagen von Anforderungsstufe zu Anforderungsstufe entlangarbeiten, weiß auch genau, was ihm noch fehlt. Da ist plötzlich diese Rückmeldung da, die wir Noten immer zuschreiben, die sie aber überhaupt nicht bieten. Hat die Motivation, weil er ja sozusagen das Ziel erreicht hat und dann zum nächsten weitergeht, und wir können wirklich definitive Aussage machen, was hat ein Kind schon verstanden und was nicht. Was bei Noten tatsächlich ganz fatal ist, ist, dass sie keine klare Aussage machen und auch keine klaren Anforderungen stellen, sondern eben durch doch relativ subtile Vorgänge eine Verteilung hervorrufen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit der Grundschullehrerin Sabine Czerny über ihr Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können". Zentrales Thema dabei sind die Zensuren in der Schule. Die Verteilung haben Sie gerade wieder angesprochen, die Frage stellt sich ja in Bayern zum Beispiel dann, wenn die Kinder zum Gymnasium kommen können, die Frage stellt sich in der vierten Klasse. Wie sollte man da entscheiden, welches Kind ist denn geeignet für ein Gymnasium, wenn es keine Zensuren gibt?

Czerny: Die Frage ist, wir sollten uns generell überlegen, ob dieses Schulsystem richtig ist, denn wenn wir aufteilen in Schularten, brauchen wir immer diese Art der Leistungsmessung, die diese Verteilung hervorruft. Und das bedingt, dass dieser Zeitaspekt reinkommt. Ich meine, unsere Kinder leiden genau da drunter, dass sie wissen, nächste Woche ist die Matheprobe und ich kann es aber vielleicht erst zwei Wochen später. Und dieser Zeitpunkt wird bei der Selektion so wahnsinnig wichtig, und daher kommt der Druck, den die Kinder und die Familien spüren. Es ist bei uns nicht wichtig, ob eine Leistung erbracht wird, sondern wann sie erbracht wird. Und schon einen Tag später, nach der Prüfung, ist sie im Prinzip wertlos.

Was aber diese Noten und diese Leistungsmessung noch bedingen, ist, dass wir eine Schule haben, die im Prinzip unsere Kinder nicht mehr wirklich ausbildet. Wir haben inzwischen einen völlig falschen Leistungs- und Lernbegriff in unseren Schulen. Unsere Kinder pauken nur noch, also hauptsächlich, in vielen Dingen, und viele Sachen fallen einfach hinten runter. Es wird nicht nachhaltig gelernt, es wird nicht ganzheitlich gelernt. Also wir sollten uns überlegen, was für eine Schule wollen wir für unsere Kinder. Und wenn wir dann sehen, dass diese Leistungsmessung sozusagen notwendig ist für die Selektion, die Selektion aber bedingt, dass wir diese Leistungsmessung haben, müssten wir grundlegend fragen, ist dieses Schulsystem sinnvoll.

Meyer: Sie haben ja nun mehrere Schulen kennengelernt, auch zwangsweise, weil sie da strafversetzt wurden, was sagen denn Ihre Kollegen, würden die in der Mehrzahl auch lieber keine Zensuren mehr geben?

Czerny: Also soweit ich sie kenne - ich möchte natürlich nicht für jemand anders sprechen -, aber was ich mitbekomme, ist die einhellige Meinung: keine Noten, keine vergleichenden Leistungsmessungen. Ob das jetzt mit Punkten oder mit Smileys ist, ist dann schon ganz egal, oder ob es Noten sind, sondern wir wollen uns auf jedes Kind individuell einstellen können, wir wollen jedes Kind individuell fördern können, wir wollen uns mit jedem Kind individuell beschäftigen können - das können wir nicht, weil die Kinder durch diese Art der Leistungsmessung alle über einen Kamm geschoren werden, es nicht wichtig ist, wann was ist, ob sie … Manche Kinder können es zwei Wochen später und es zählt schon nicht mehr. Und wir wollen uns eigentlich um die Kinder kümmern und nicht diese Art der Leistungsmessung haben.

Meyer: Also unterm Strich, die Noten abschaffen?

Czerny: Die Noten abschaffen, aber nicht nur die Noten an sich, sondern diese Art der Leistungsmessung. Also wie gesagt, auch wenn es Punkte wären oder Smileys oder sonst was, sobald wir eine vergleichende Art der Leistungsmessung haben, produzieren wir automatisch Verlierer, und das bei Kindern im Alter von sechs Jahren. Ich habe Kinder in der zweiten Klasse gesehen, die haben aufgegeben - die haben sich aufgegeben, die haben das Lernen aufgegeben und haben gesagt, ich bin ein schlechter Mensch, ich habe eine Fünf, oder mehrere Fünfer, ich kann doch sowieso nichts, ich bin unfähig, ich bin dumm. Und das dürfen wir nicht zulassen. Und das liegt aber an unserer Leistungsmessung, die automatisch die Fünfer produziert.

Meyer: Die Noten abschaffen, das fordert die Lehrerin Sabine Czerny in Ihrem Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können". Gestern ist das Buch im Südwest-Verlag erschienen, es hat 380 Seiten und kostet 17,99 Euro. Frau Czerny, vielen Dank für das Gespräch!

Czerny: Vielen Dank!
Mehr zum Thema