Zeitzeugen

Berichte vom aufrechten Gang

Ein DDR-Emblem hängt am Mauermuseum - Haus am Checkpoint Charlie in Berlin.
Auch 20 Jahre nach ihrem Ende gebe es viel Unkenntnis über die Geschichte der DDR, schreibt Peter Bohley in seinem Vorwort. © picture alliance / ZB- Jens Kalaene
Rezensiert von Holger Heimann · 12.07.2014
Aus einer Vorlesungsreihe der Uni Tübingen ist "Erlebte DDR-Geschichte" entstanden. Schlaglichtartig erhellt der von Peter Bohley herausgegebene Band Szenen des Lebens in der DDR.
Die DDR ist alles andere als unbekanntes Terrain. In den 25 Jahren, die seit dem Fall der Mauer vergangen sind, wurde noch in die kleinsten Nischen und dunkelsten Winkel hineingeleuchtet. Man weiß: Ein Land der Helden war die Deutsche Demokratische Republik nicht. Die meisten lernten sich zu arrangieren und so dauerte es 40 Jahre bis die Herrschaft der SED-Bürokraten zerbrach. Die Mutigen, die opponierten, und dafür schikaniert wurden, blieben eine Minderheit. Diese Unangepassten sind es, die in dem Band "Erlebte DDR-Geschichte" von ihren Erfahrungen erzählen.
Von den frühen Jahren bis 1989
Die Berichte umspannen die Periode von den frühen Jahren der DDR als bald schon die Hoffnung der Ernüchterung Platz machte bis zum späten, kaum für möglich gehaltenen, selbstbewussten Aufbruch 1989. Kindheitserinnerung an ein Leben am Rand eines Braunkohletagebaus werden genauso aufgerufen wie Straßenszenen aus Halle am Tag des Arbeiteraufstandes 1953. Die Erzählungen führen in Gefängnisse, Kirchen und Schulen. Und stets sind diese Beiträge auch Porträts der Autoren selbst, Reflexionen über die eigene Rolle, das eigene Tun.
Die Qualität der einzelnen Texte ist weniger davon bestimmt, was einer zu erzählen hat: Es sind allesamt beeindruckende Geschichten vom aufrechten Gang. Wichtiger ist, wie es einer tut, mit welcher sezierenden Intensität und Rückhaltlosigkeit Geschichte und Geschichten reflektiert werden.
Zu den eindrücklichsten Beiträgen gehören zwei Berichte über die Schulzeit – einmal aus der Perspektive eines Lehrers und einmal aus der einer Schülerin.
Jugendliche mit politischem Eigensinn
Buchcover: "Erlebte DDR-Geschichte - Zeitzeugen berichten" von Peter Bohley (Hg.)
Buchcover: "Erlebte DDR-Geschichte - Zeitzeugen berichten" von Peter Bohley (Hg.) © Ch. Links Verlag
Zu Beginn der 80er-Jahre ist Christine Zarft 16 Jahre alt. In dem Mädchen verbindet sich jugendliches Aufbegehren mit politischem Eigensinn. Sie eckt an deshalb immer wieder in der Schule. Aber zur Eskalation kommt es erst bei einer Maidemonstration:
"Ich hatte mir ein Transparent gebastelt mit dem schlichten Text: 'Ich will Frieden – keine Raketen'. Zu dieser Zeit gab es nur vorgefertigte Spruchbänder der Partei. Ein selbstfabriziertes Transparent war ein absolutes Novum, und so war ich mir meiner Wirkung sicher. Natürlich hatte ich gebührend Muffensausen, ich wollte aber unbedingt sehen, was passiert. Ich wollte die Grenzen austesten."
Lange Zeit steht sie nicht herausfordernd den Funktionären gegenüber, rasch wird dem Mädchen das Plakat entrissen und sie zum Verhör gezerrt. Es gibt Menschen, die sich daraufhin abkehren, aber die Freundinnen halten zu ihr. Bezahlen lässt der DDR-Machtapparat das Mädchen trotzdem. Aber erst in ihrer Stasi-Akte stößt Zarft später darauf, dass die Ablehnung zum Schauspiel-Studium politisch motiviert war. Ihr Fazit über 25 Jahre später ist dennoch erstaunlich positiv:
"Mein Leben ist weder versaut noch bin ich gebrochen. Meine Biografie ist deutlich geformt. Ich habe eine Zähigkeit und große Kreativität entwickelt, meine Türen ins Leben zu finden."
Vom Schuldienst suspendiert
Eine andere Schule, eine andere Lebenssituation: Als Lehrer erlebt Burkhard Baltzer zunächst ungeahnte Spielräume, er initiiert eine Konzertreihe und Vorträge über westliche Popmusik. Seine Begeisterung steckt nicht nur die Schüler an, sondern auch Eltern und sogar Funktionäre. Doch dann werden ihm die Grenzen jeglicher Entfaltungsmöglichkeit aufgezeigt. Weil er sich 1979 weigert, an den Kommunalwahlen der DDR teilzunehmen, deren Ausgang bekanntlich immer schon vorher feststand, wird er vom Schuldienst suspendiert:
"Das war das Ende: Sie sperrten meine Kaderakte. Kein Betrieb durfte mich ohne diese Akte einstellen. ... Schließlich nahm mich die Jüdische Gemeinde. Ich wurde als gärtnerische Hilfskraft und Totengräber auf einem der größten erhaltenen jüdischen Friedhöfe Europas in Berlin-Weißensee eingestellt. Es war eine gute Schule. Im dritten Jahr rutschte die Verzweiflung ins Bodenlose."
Nach 29 Ausreiseanträgen entkommt Baltzer der DDR, wird Kulturredakteur in Saarbrücken. Ein Resümee zieht er nicht, aber es wird deutlich genug: Leben, das war für ihn nur noch außerhalb der DDR möglich.
Ungewöhnliches Reiseziel DDR
Es gibt auch die umgekehrte Perspektive, Berichte von Reisen in die DDR. Die Publizistin Inge Jens bricht mit ihrem Mann Walter Jens regelmäßig von Tübingen aus auf zu Fahrten in den Osten; das Paar lässt dafür die USA und die Adria links liegen. Einleitend zu ihrem Text, der wie andere Beiträge auch ganz im Duktus der Vortragsrede geblieben ist, erklärt sie offenherzig:
"Erwarten Sie bitte keine systematische, ja, nicht einmal eine besonders problemorientierte Vorlesung."
Inge Jens erinnert sich mithin an die Begegnung mit Bürgerrechtlern und Künstlern, erzählt aber auch schlicht von Besichtigungstouren. Es sind in der Tat unsystematische Alltagsbeobachtungen, die durchaus zufällig anmuten. Doch zuweilen vermögen sie gerade wegen des anekdotenhaften Charakters ein anschauliches Bild von der Atmosphäre im Osten Deutschlands zu vermitteln.
Ergebnis einer Tübinger Vorlesung
Dies mag insgesamt Ziel des Buchs gewesen sein, das aus der Vorlesungsreihe "Erlebte DDR-Geschichte" an der Universität Tübingen hervorgegangen ist. Im dem recht müden Vorwort erklärt der Herausgeber Peter Bohley jedenfalls:
"Noch immer, über zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR finden wir erschreckend viel Unkenntnis, krasse Fehlurteile und nostalgische Verklärungen der Geschichte dieses Staates, der sich selbst in seiner Verfassung bescheinigte, er habe 'auf seinem Boden Nazismus und Militarismus ausgerottet'."
Vielleicht stimmt das sogar, aber an der Masse der Bücher und Studien über die DDR kann es nicht liegen. Es gibt sie ja bereits, die Erinnerungstitel, Untersuchungen zu ostdeutschen Befindlichkeiten, Studien über Stasi und Opposition. Die von Bohley publizierten Berichte erhellen zwar durchaus schlaglichtartig Szenen des Lebens in der DDR. Doch zu den wichtigen oder gar unentbehrlichen Titeln über das Land wird man diesen Zeitzeugenband nicht zählen können.

Peter Bohley (Hg.): Erlebte DDR-Geschichte - Zeitzeugen berichten
Christoph Links Verlag
224 Seiten, 29,90 Euro / epub 23,99 Euro