"Zeitkonten" und "atmende Lebensverläufe"

Von Karin Jurczyk · 11.04.2013
Die Verhältnisse von bezahltem Arbeiten und privatem Leben sind sowohl im Alltag wie im Lebensverlauf durcheinander geraten: Die einen, vor allem die Männer, arbeiten zu viel, die anderen, vor allem die Frauen, würden gerne mehr beruflich arbeiten, meint die Soziologin Karin Jurczyk.
Noch bis vor wenigen Jahren schien klar, dass Frauen selbstverständlich ihre Erwerbsarbeit an die Bedürfnisse der Familie, an Kinderbetreuung und Pflege der Eltern anpassen. Jetzt sind sie zunehmend gefordert und gewillt, selbst ihren Lebensunterhalt zu sichern, spätestens im Fall der Trennung.

Gleichzeitig steigen die Lebenserwartung und damit auch die durchschnittliche Dauer der Nach-Erwerbsphase, ebenso aber verdichtet sich die Arbeit und wird für immer mehr Beschäftigte zu einem Stressfaktor. Das eine ruft nach einem späteren Eintritt in die Rente, das andere weist auf Belastungsgrenzen hin, die teilweise schon längst vor dem Eintritt in das heute übliche Rentenalter erreicht werden.

Die Politik – das heißt die Arbeitszeitordnung, familienpolitische Maßnahmen sowie die sozialen Sicherungssysteme - arbeitet jedoch nach den alten Modellen: erstens dem dreiphasigen sequenziellem Lebensverlauf, konstruiert entlang der männlichen Normalbiographie, das heißt mit Ausbildung, kontinuierlicher vollzeitiger Erwerbsarbeit und klarem Renteneintritt. Zweitens – da immer schon klar war, dass sich ja irgendjemand um Kinder und Alte kümmern muss - auf dem Ernährer- oder Zuverdienermodell, das Frauen höchstens eine teilzeitige Erwerbsarbeit zugesteht.

Diese Modelle passen weder zu heutigen Lebensentwürfen und Lebensformen, noch zu einer unsicher und flexibel gewordenen Arbeitswelt.

Kann vor diesem Hintergrund der derzeit wieder laut werdende Ruf nach einer 30-Stunden-Woche für alle zielführend sein? Ich meine nein. Denn er ignoriert nicht nur Genderaspekte, sondern vor allem setzt er auf starre Vorgaben, die ignorieren, dass Zeitbedürfnisse in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft entlang Lebenslagen und Lebensphasen variieren.

Wir brauchen einen "atmenden" Lebensverlauf, in dem Zeit und Energie bleiben für die anderen wichtigen Lebenstätigkeiten, allen voran für Care, das heißt für die Sorge für Andere. Und wir brauchen Formen, die einen solchen entstandardisierten Lebensverlauf für alle, das heißt auch und gerade für Männer, normal werden lassen und mehr Geschlechtergerechtigkeit ermöglichen.

Denn es ist absurd, dass Männer und zunehmend auch Frauen durchpowern von 15 -bei Studium auch von 25- bis 65 Jahren, um dann erschöpft in eine lange Rentenphase zu fallen, aber ihr Erwerbsleben lang immer weniger Zeit haben für die, um die sie sich kümmern wollen. Konkret könnte durch Entnahme von einem Zeitkonto von insgesamt circa fünf bis acht Jahren, das allen zusteht, Arbeitszeit entweder phasenweise verkürzt oder aber unterbrochen werden.

Für gesellschaftlich relevante reproduktive Tätigkeiten wie Kinderbetreuung, die Versorgung von kranken und alten Menschen in persönlichen Beziehungen, müsste es einen steuerfinanzierten Lohnersatz geben. Daneben könnte das Budget aber auch für social care genutzt werden, das heißt etwa für ein Engagement für die Kinder im Stadtviertel.
Unterbrechungszeiten zur Selbstsorge - beispielsweise im Rahmen eines Sabbaticals - müssten selbst oder durch Unternehmen finanziert werden.

Ein derart atmender Lebensverlauf als neue Normalität beinhaltet aber auch das Aufgeben einer starren Verrentungsgrenze. Denjenigen, die wollen und können, muss es möglich sein, länger zu arbeiten. Durch einen solchen Vorschlag würde auch gleichzeitig die Frage der eigenständigen Existenzsicherung für Männer und Frauen selbstverständlicher werden. Sie wäre eine Grundanforderung für Jeden und Jede.

Wer behauptet, dass eine solche neue Konstruktion von Lebensverläufen - und hiermit die entsprechend notwendigen Veränderungen von sozialer Sicherung, Lohnniveau von Frauen und dem Steuersystem - nicht bezahlbar ist, muss die Gesamtkosten der gegenwärtigen Systeme einschließlich der Altersarmut von Frauen in den Blick nehmen.

Es braucht vermutlich viele kleine Schritte und entsprechend viel Durchhaltevermögen. Aber es lohnt sich, auf so ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten, bei dem Frauen und Männer in ihrem Erwerbsverlauf selbstbestimmt und sozial abgesichert Sorgearbeit übernehmen können.


Dr. Karin Jurczyk, geboren 1952, Dipl. Soz., Dr. rer. phil., Studium der Soziologie und Politologie in München, Promotion 1988 an der Universität Bremen über "Familienpolitik als andere Arbeitspolitik". Seit 2002 Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V., München. Von 1979 bis 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität München in den Sonderforschungsbereichen 101 und 333, Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten. Gründungsmitglied der Frauenakademie München e.V. (FAM). Arbeitsschwerpunkte: Familie und Arbeitswelt, Entgrenzung, Familienpolitik, Gender, alltägliche Lebensführung, Zeit und Familie als Herstellungsleistung. Mitglied in nationalen und internationalen Gremien; kooptiertes Mitglied im 7. Familienbericht des BMFSFJ. Zwei Söhne.
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