Zeitgenosse unauflösbarer Widersprüche

Von Manfred Jäger · 14.08.2012
Erwin Strittmatter war für unterschiedliche Generationen von Lesern in Ostdeutschland ein vertrauter Lebensbegleiter. Seine Tagebücher offenbaren den Zwiespalt eines im 20. Jahrhundert exemplarischen Lebenslaufs: Nur anfangs habe er die SED bejaht, doch der DDR blieb er bis zuletzt äußerlich ein treuer Genosse.
Für verschiedene Generationen im östlichen Deutschland war Erwin Strittmatter ein vertrauter Lebensbegleiter. Sein auf epische Breite angelegtes Lebenswerk lebte von autobiografischer Erfahrung, genauer Menschenbeobachtung und skurriler Fabulierlust. Strittmatters Tagebücher offenbaren den Zwiespalt eines im 20. Jahrhundert exemplarischen Lebenslaufs. Die SED-Diktatur habe er nur einige Jahre bejaht, notiert er 1980. Aber er blieb bis zuletzt der DDR äußerlich ein treuer Genosse, weil er so das kritische Potenzial seines Werks sichern wollte. Über seine Zugehörigkeit zu einem nationalsozialistischen Polizeibataillon gab er nur in internen Fragebögen Auskunft. So zeigt eine angemessene Würdigung aus Anlass seines 100. Geburtstags am 14. August einen Zeitgenossen voller unauflösbarer Widersprüche.

Eigentlich hätte der begabte Autodidakt aus der Niederlausitz zum Idealtypus eines "sozialistischen Realisten" werden können. Der am 14. August 1912 in Spremberg geborene Bäckergeselle Erwin Strittmatter kannte sich aus in den "einfachen Verhältnissen". Er nutzte seine Aufstiegschancen, trat 1947 in die SED ein, wurde Journalist und Geschichtenerzähler. Kein feindliches Gebell könne die Dynamik des Fortschritts behindern, meinte Strittmatter - angestrengt metaphorisch - 1961 auf dem 5. Schriftstellerkongress:

"Der Zug fährt durch Neuland. Da darf man sich nicht allzu sehr wundern, wenn hin und wieder ein wild gewordener Rehbock auf die Schienen springt und bellt. Er kann mit dem Gebell den Zug nicht aufhalten. Die Station, die wir ansteuern, heißt: sozialistische Nationalliteratur."

Als störrisch galt auch der Autor selbst. Die Parteikritik ärgerte sich schon über sein Romandebüt, den "Ochsenkutscher" von 1950. Lope Kleinermann, der Held mit dem aufdringlich sprechenden Namen, sei in drückender Armut düster gezeichnet ohne optimistischen Kampfesmut. Noch schärfer wurde über ein Jahrzehnt später der Roman "Ole Bienkopp" von 1963 attackiert, weil der sture Hobbyimker in der Genossenschaft mit den Funktionären nicht zurechtkommt und einsam stirbt.

In allen Konfliktfällen wollte keine Seite den Bogen überspannen. Der Autor wurde massiv umworben und gedrängt, angesehene Ämter zu übernehmen, aber er hatte keine Lust Volkskammerabgeordneter oder gar Präsident des Schriftstellerverbands zu werden.
1954 war er aufs Land gezogen, nach Schulzenhof-Dollgow, 100 Kilometer weg vom ungeliebten Berlin. Nur durch seine Pferdezucht ließ er sich die Zeit stehlen, die er für’s Schreiben brauchte, für das Wichtigste, das es für ihn überhaupt gab. Innerlich hatte er sich vom System mehr oder weniger gelöst, aber nach außen zeigte er sich bauernschlau oder krass opportunistisch, oft sehr anpassungswillig:

"Der Dichter sollte der Herold der Schönheit sein. Gibt es in unserem gesellschaftlichen Leben und in unserer Industrie keine Schönheit? - Die leuchtenden Augen der Sieger im Wettbewerb, die Menschen beim Umzug am 1. Mai, die Freude in den Gesichtern der Genossenschaftsbauern, wenn der Wert ihrer Arbeitseinheit steig."

Strittmatter wollte den scharfen Bruch vermeiden. In seinem Tagebuch erklärt er, warum er jeden Orden annahm - er erhielt allein fünf Nationalpreise -, obwohl er die Geber verachtete. Er brauchte diese Stärkung gegen die Intrigen der Dummköpfe und Bürokraten. Lange vermutete er, dass "Der Wundertäter III" erst posthum herauskomme, aber es gelang dann doch 1980. Die alten Bände der Trilogie, erschienen 1957 und 1973, wirken im Vergleich brav und bieder. Gleich der Beginn des dritten Tells markiert die Abkehr vom Marxismus:

"Als Büdner die Parteischule verließ, war die Welt und alles, was mit ihr zusammenhing, für ihn marxistisch erklärbar. Vom Schulsaal aus gesehen war diese Welt standhaft, geduldig und auseinandernehmbar, doch nun hatte er es wieder mit der wirklichen, brausenden, sich ewig wandelnden Welt zu tun."

1980 schrieb er ins Tagebuch, er habe nacheinander in zwei Diktaturen gelebt, die eine - er meint die kommunistische - habe er einige Jahre bejaht. Schon 1972 notierte er, dass er gern aus der SED, dieser Sekte, austräte. Seine Nerven hatten den Skandal aber nicht ausgehalten. Einer Figur im "Wundertäter" legte er gute Gründe gegen die Parteimitgliedschaft in den Mund:

"Wer in der Partei ist, muß zu sehr aufpassen, dass er sowjetische Freunde, nicht 'Russen' und dass er nicht 'Chemnitz' statt 'Karl-Marx-Stadt' sagt. Allzuviel, was man als kleiner Leut gern sagt, ist in der Partei ungestattet. Ich bin nicht fromm genug für die Partei."

Im vereinigten Deutschland hat der Autor seine 1983 begonnene letzte autobiografische Bilanz "Der Laden" noch erfolgreich beenden können. Am 31. Januar 1994 starb Strittmatter. Die Aufregung wegen der Enthüllung, das Polizeibataillon, in das er 1941 einberufen wurde, sei der SS unterstellt worden, blieb ihm erspart. Obwohl ihm niemand die Teilnahme an Verbrechen vorwirft, feiert seine Heimatstadt den 100. Geburtstag nicht offiziell.
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