Zeit

"Unser Jüngstes Gericht ist selbst gemacht"

Moderation: Liane von Billerbeck · 28.03.2014
Das endzeitliche Denken sei im Christentum verankert, meint Achim Landwehr. Der Zeitgeist der Gegenwart sei im 17. Jahrhundert geprägt worden. Erst dann sei die Gegenwart als ein Zeitraum entdeckt worden.
Liane von Billerbeck: Wenn am Wochenende die Uhren umgestellt werden, dann soll das durch den leicht veränderten Tagesrhythmus Strom sparen. Wir sparen, weil wir nicht auf einen ökologischen Abgrund hinsteuern wollen, und weil wir das wollen, drehen wir an der Uhr und greifen in die Zeit ein. Der Historiker Achim Landwehr hat sich damit befasst, woher unsere Vorstellungen von Zeit kommen, in seinem Buch "Die Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert". Er ist jetzt aus Düsseldorf zugeschaltet. Herr Landwehr, ich grüße Sie!
Achim Landwehr: Guten Tag, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wir haben es mit einem Zeitmodell zu tun, das sowohl seit dem 17. Jahrhundert in Europa nicht mehr so aktuell war wie heute, nämlich mit der Endlichkeit der Welt. Wie war das, Herr Landwehr, mit der Endlichkeit der Welt? Welche Rolle spielte die im 17. Jahrhundert?
Landwehr: Sie spielte eine ungemein dominante Rolle, nicht erst im 17. Jahrhundert, sondern auch schon in den Jahrhunderten davor. Man kann durchaus davon sprechen, dass in einer christlich-religiös geprägten Welt das endzeitliche Denken gewissermaßen normal ist, denn wenn man sich einfach nur mal die Bibel anguckt, dann ist eine apokalyptische Vorstellungswelt da schon von vornherein eingeschrieben, denn die Welt, die Schöpfung wird irgendwann enden, das ist Gewissheit, und das ist auch das Einzige, was man lange Zeit meint, über die Zukunft sicher zu wissen, nämlich, dass das Ende nah ist. Und im 17. Jahrhundert war dieses Ende ungemein aktuell. Man vermutete also auch beständig, dass dieses Ende unmittelbar bevorstünde. Es gibt Berechnungen, mathematische Berechnungen, es gibt Prophezeiungen der unterschiedlichsten Art, Propheten, die auftreten und die das genaue Datum meinen, vorherbestimmen zu können, wann denn nun das Jüngste Gericht tatsächlich eintritt. Also von daher: Das war im 17. Jahrhundert tatsächlich noch eine sehr konkrete Vorstellung, dass die Welt enden würde.
Eine Sanduhr. Das obere Glas ist noch halb voll.
Zeitschleifen und die paradox anmutende Wiederkehr des Immergleichen kennzeichnen das Werk von Sofia Hultén.© picture alliance / dpa
von Billerbeck: Worin bestehen denn nun die Ähnlichkeiten zur Gegenwart, denn wir glauben ja immer noch, wir würden es irgendwie hinbekommen mit der Zukunft?
Landwehr: Ja. Na gut, mit den Ähnlichkeiten muss man natürlich immer so ein bisschen vorsichtig sein bei solchen historischen Vergleichen. Ich würde nicht behaupten, dass wir eine ähnliche oder gar eine identische Situation wie im 17. Jahrhundert haben, das nun sicherlich nicht. Aber womit wir es zu tun haben -sicherlich seit einigen Jahrzehnten, ich würde mal so die 70-er-Jahre als den Schnittpunkt ansetzen wollen -, ist natürlich ein ökologisches Endzeitbewusstsein, sprich: Wir denken die Endzeit nun nicht mehr in Form einer religiösen Apokalypse und dass der Schöpfer auftreten wird und das Jüngste Gericht abhält, aber unser Jüngstes Gericht ist gewissermaßen selbstgemacht, das ist nämlich die ökologische Apokalypse, auf die wir unter Umständen zurasen - ja oder nein, auch da gibt es ja unterschiedliche Berechnungen, also von daher schon gewisse Parallelen. Auch wir versuchen, zu mathematisieren und die Jahre auszurechnen, die uns noch bleiben, um ökologisch umzuschalten. Also von daher ist in der Tat die Apokalypse und der Weltuntergang im Moment so aktuell wie seit Jahrhunderten nicht mehr.
von Billerbeck: Das heißt also, wenn wir so apokalyptisch denken und also das ökologische Ende der Welt vor uns sehen, dann heißt das ja auch: Wenn sowieso bald Schluss ist, dann müssen wir uns um die Gegenwart nicht mehr so groß kümmern.
Landwehr: Na ja, zugleich ist natürlich die Gegenwart der Zeitabschnitt oder der Zeitraum, wie immer man den auch definieren mag, in dem man überhaupt noch umsteuern kann. Es ist tatsächlich die einzige Zeit, die uns nach unserer üblichen Vorstellung von der Zeit zur Verfügung steht, mit der wir agieren können. Und das ist natürlich auch etwas, was uns wiederum gewissermaßen mit dem 17. Jahrhundert verbindet in einem weiten Bogen, denn über Jahrhunderte hinweg spielte vor dem 17. Jahrhundert die Gegenwart praktisch keine Rolle. Man war gewissermaßen eingeklemmt zwischen einer Vergangenheit, die übermächtig war, die idealisiert wurde, die perfekt war, zu der man im besten Fall auch zurückstreben wollte, und einer Zukunft, die, wie gesagt, endzeitlich vorgeprägt war. Und da eingeklemmt spielte die Gegenwart so gut wie gar keine Rolle. Das ändert sich im 17. Jahrhundert, da empfinden wir tatsächlich eine Spaltung, Vergangenheit und Zukunft treten auseinander und Gegenwart wird als ein Zeitraum entdeckt, in dem man hantieren kann, in dem man Dinge verändern kann und in dem man Dinge auch reversibel halten kann. Und das ist natürlich etwas, was uns heute immer noch bestimmt und auch gerade in den Umweltdebatten natürlich immer noch bestimmt. Wir wissen: Wir müssen heute etwas ändern, wenn wir bestimmte ökologische Probleme vermeiden wollen. Das ist ja auch der Tenor, der sowohl in der Politik wie auch bei Vertretern der Umweltpolitik et cetera immer wieder gesungen wird, dass wir jetzt etwas ändern wollen, wenn wir in Zukunft noch Zeit haben wollen.
"Die Gegenwart wurde aus der Krise heraus geboren"
von Billerbeck: Herr Landwehr, dabei will ich noch mal bleiben. Sie haben gesagt, im 17. Jahrhundert wurde die Gegenwart geboren, also diese Vorstellung, es gibt da noch etwas, wo man etwas ändern kann zwischen Vergangenheit und Zukunft, die apokalyptisch vorbestimmt ist. Was war es denn, dass plötzlich die Gegenwart geboren wurde?
Landwehr: Ja, man kann durchaus sagen, die Gegenwart wurde aus der Krise heraus geboren, wenn man so möchte.
Philipp Jacob Loutherbourg - Die Apokalypse: Die Vision des weißen Pferdes (1798)
Philipp Jacob Loutherbourg - Die Apokalypse: Die Vision des weißen Pferdes (1798)© Tate, London 2012
von Billerbeck: Das kommt uns ja wieder irgendwie bekannt vor.
Landwehr: Das kommt uns wiederum sehr bekannt vor, in der Tat. Ich glaube, auch deswegen kann das 17. Jahrhundert in gewisser Weise durchaus interessant sein als Gesprächspartner, wenn man so möchte, als historischer Gesprächspartner, insofern wir einiges auch über uns lernen können, und das sollten historische Betrachtungen eigentlich immer tun, also dass wir etwas über uns lernen können, wenn wir historisch zurückschauen. Und das 17. Jahrhundert ist auch schon vielfach als ein krisenhaftes Jahrhundert bezeichnet worden, auch schon von den Zeitgenossen. Dafür gibt es eine Unzahl an Phänomenen und Faktoren, die ich jetzt gar nicht im Einzelnen aufzählen muss, die bekannteren sind sicherlich solche Dinge wie Pestepidemien, Hexenverfolgungen, Krieg als Dauerzustand - man hat im 17. Jahrhundert, im europäischen 17. Jahrhundert gerade mal, ich glaube, drei Jahre gefunden, in denen kein Krieg geführt wurde -, Revolutionen, die stattfanden, auch klimatische Veränderungen, das 17. Jahrhundert ist der Höhepunkt der sogenannten kleinen Eiszeit, also einer merklichen Klimaverschlechterung mit einer Abkühlung von ein bis zwei Grad europaweit, das zu Ernteverschlechterungen, Hungersnöten et cetera geführt hat, also eine Ansammlung von Krisen. Und diese Ansammlung von Krisen hat nun tatsächlich dazu geführt, dass man zu lange Zeit etablierten Zeitmustern nicht mehr zurückgreifen konnte. Die Vergangenheit erschien nicht mehr als ideal, weil sie war eben geprägt zum Beispiel auch durch konfessionelle Konflikte zwischen Katholiken, Calvinisten, Protestanten et cetera, sie war geprägt durch Kriege. Das ist also ein Ideal, auf das man nicht mehr unbedingt zurückgreifen konnte. Gleichzeitig ist die Zukunft a) entweder vorgeprägt oder b), das vermeintlich Jüngste Gericht, das ständig angekündigt wird, aber nie kommt, ist eben auch nicht sehr verlässlich. Und in genau dieser Krisensituation versucht man gewissermaßen, einen Ort zu finden, an dem man überhaupt noch irgendwie agieren kann - und das ist der Moment, in dem Gegenwart gewissermaßen entdeckt wird. Und das kann man an sehr vielen auch alltäglichen Phänomenen feststellen. Ich will vielleicht nur eins nennen: Das 17. Jahrhundert erfindet auch den Terminkalender, also die Idee, dass man mit seiner Zeit eigenhändig hantieren könnte. Kalender, die es bis dahin gab, sind meistens vollgestopft gewesen mit Informationen, alles prognostische Informationen, die für ein Jahr im Voraus immer genau gesagt haben, was schon passieren wird, und das 17. Jahrhundert erfindet einen Terminkalender, der praktisch mit weißen Blättern daherkommt und der die Aufforderung an seine Benutzer stellt: Füll mich! Nutze mich, nutze deine eigene Zeit!
"Zeit ist nun eine ökonomische Ressource"
von Billerbeck: Und was bedeutet das, wenn man jetzt plötzlich einen Kalender hat, den man selber füllt und wo nicht mehr drinsteht, dann und dann musst du das und das tun, ernten, medizinische Dinge tun, christliche Dinge?
Landwehr: Genau. Und das sind genau die Informationen, die diese alten Kalender tatsächlich enthalten haben. Sie haben also den Alltag, wie gesagt, immer für ein Jahr im Voraus vorherbestimmt und waren von daher mit unglaublich vielen Informationen angefüllt. Wenn diese Kalender nun entleert werden und man im Prinzip auch Geld ausgibt, was wir ja bis zum heutigen Tage tun, zumindest so lange wir Terminkalender in Papierform noch kaufen, die vornehmlich weiße Blätter enthalten, dann ist das zum einen, wie gesagt, die Aufforderung, Zeit zu nutzen, aber ist natürlich auch ein Indiz für ein anderes Umgehen mit Zeit. Zeit wird zu einer Ressource, einer Ressource, die genutzt werden muss. Zeit ist nicht mehr etwas, was einem gegeben wird - in einem christlich-religiösen Weltbild dann vom Schöpfergott gewissermaßen gegeben wird und man hat dafür dankbar zu sein, dass man diese Zeit überhaupt bekommt -, nein, Zeit ist nun eine ökonomische Ressource, die in einer gewissen Quantität zur Verfügung steht, und wenn wir sie jetzt und hier und heute nicht nutzen, dann ist die tatsächlich verloren. Und das ist natürlich der Beginn eines auch ökonomischen Zeitverständnisses, mit dem wir ohne Frage immer noch leben. Dann wird Zeit tatsächlich allmählich Geld.
von Billerbeck: Sie sprechen ja auch davon, dass Zeit und Macht in eine Beziehung eintreten und auch von der Erfindung des Zeitregimes. Was ist denn das?
Menschen in Eile
Menschen in Eile© Stock.XCHNG / Raena Armitage
Landwehr: Ja. Politik und Obrigkeiten, Herrschaften, Regierungen haben Zeit natürlich schon immer als eine Möglichkeit erkannt, um Macht tatsächlich auszuüben auf unterschiedliche Art und Weise. Alle Kalender, mit denen wir zu tun haben, auch der Kalender, der für uns heute noch gilt und der weltweit von unüberblickbarer Bedeutung ist, der gregorianische Kalender, ist ein Instrument einer Obrigkeit, in dem Fall der päpstlichen Obrigkeit, 1582 durch Papst Gregor erlassen worden. Und das sind eben Zeitregime, also die Art und Weise, wie Obrigkeiten Zeit einsetzen, um damit tatsächlich zu herrschen und Macht auszuüben.
von Billerbeck: Was heißt das konkret?
Landwehr: Wir wären damit gewissermaßen bei Ihrer Anmoderation, also beziehungsweise bei dem, was wir am nächsten Wochenende auch erleben werden: Auch die Zeitumstellung ist natürlich eine Art und Weise, wie uns gewissermaßen durch die Politik vorgeschrieben wird, wie wir mit Zeit umzugehen haben, dass wir Zeit zu sparen beziehungsweise Energie zu sparen haben, indem wir eben zwei Mal im Jahr die Uhr eine Stunde vor- beziehungsweise zurückstellen. Man kann das aber auch in vielen anderen Zusammenhängen feststellen. Das beste Beispiel ist vielleicht das Gefängnis, die Zeitstrafe, also Menschen dadurch zu bestrafen, dass man ihnen Lebenszeit wegnimmt. Auch das ist etwas, was im 17. Jahrhundert überhaupt erst aufkommt. Zuvor gibt es nur Körperstrafen. Man bestraft Menschen dadurch, dass man sie körperlich züchtigt, im schlimmsten Fall bis zur Todesstrafe, aber niemand kommt auf die Idee, ein Gefängnis hinzustellen und dort Menschen einzusperren. Seit dem 17. Jahrhundert gibt es eben diese Vorstellung, Menschen wegzusperren für eine bestimmte Anzahl von Jahren und ihnen damit Lebenszeit zu klauen.
von Billerbeck: Der Historiker Achim Landwehr. Wenn Sie das noch mal nachlesen wollen, sein Buch heißt "Die Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert", ist bei S. Fischer erschienen. Herr Landwehr, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Landwehr: Ich danke Ihnen!
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