"Zeit ist wirklich das Entscheidende"

Thomas Ruttig im Gespräch mit Hanns Ostermann · 11.08.2010
Thomas Ruttig vom Thinktank Afghanistan Analysts Networks hält Zeit, Geduld und eine "Beruhigungsphase" für wichtig, um die Probleme in Afghanistan zu lösen. Die Regierungen würden sich selbst unter Druck setzen, indem sie immer wieder über Abzugstermine sprechen.
Hanns Ostermann: Es war eine traurige Bilanz, die gestern die Vereinten Nationen ganz offiziell vorgelegt haben: In Afghanistan sind im ersten Halbjahr dieses Jahres 25 Prozent mehr Zivilisten getötet worden als in den ersten sechs Monaten des Vorjahres. Die Zahl der getöteten Kinder stieg sogar um 55 Prozent. Nach wie vor regiert die Gewalt am Hindukusch, sie trifft Zivilpersonen, Soldaten und Helfer, und das zu einem Zeitpunkt, wo immer mehr Soldaten dorthin geschickt werden. Eine aussichtslose Lage, wie es scheint, fast zehn Jahre nach Beginn des US-Eingreifens. Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des unabhängigen Analysten-Networks Afghanistan und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Ruttig!

Thomas Ruttig: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Haben Sie in den letzten Tagen eigentlich irgendetwas Erfreuliches aus Afghanistan gehört?

Ruttig: Na ja, es gibt schon erfreuliche Dinge. Ich habe zum Beispiel gehört von einer Initiative von Wählern im Norden Afghanistans, die sich darüber erregen, dass bei den bevorstehenden Parlamentswahlen wieder so viele Warlords sich als Kandidaten bewerben und dass die staatlichen Stellen da wenig gegen unternehmen, obwohl das in den Gesetzen steht. Sowas finde ich ermutigend.

Ostermann: Aber es sind wenige Nachrichten, das werden Sie zugeben.

Ruttig: Ja, das ist wahr, die Meldungen über Tote und Verletzte überwiegen natürlich.

Ostermann: Die Sicherheitslage ist so katastrophal wie lange nicht mehr. Ist die derzeitige Strategie wirklich richtig, immer mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken, wenn parallel der Staat – das haben Sie eben auch als Beispiel genannt –, der Staat als inkompetent und vielleicht auch als korrupt gilt?

Ruttig: Ja, die militärische Logik, die immer mehr eskaliert, wie ja die Zahlen, die die UN, aber auch die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission jetzt in den letzten Tagen vorgelegt haben, sprechen natürlich dafür, dass es da eskaliert und weiter in die falsche Richtung führt, also mit vorwiegend militärischen Mitteln sind die Probleme in Afghanistan nicht zu lösen, das müssten eigentlich alle Beteiligten inzwischen gelernt haben. Aber man darf auch nicht von einem Extrem ins andere fallen und sagen, wir ziehen jetzt da ab, denn die Warlords – und da ist dieser Prozess ja ein Beleg dafür – sind nach wie vor da und die warten nur auf den Moment, dass die ausländischen Truppen abziehen. Also das ist zumindest noch einer positiven Funktionen der westlichen Soldaten, da als Bremse zu wirken, denn viele Afghanen befürchten, dass es dann wieder zu einem Bürgerkrieg, zu einer neuen Runde des Bürgerkriegs kommen würde, und das gibt es ja schon seit 30 Jahren.

Ostermann: Es wird ja immer wieder diskutiert, Clanführer in Entscheidungen mit einzubeziehen. Aber kann man überhaupt zwischen moderaten und hoch ideologisierten Taliban unterscheiden? Denn wahrscheinlich haben doch beide Blut an den Händen.

Ruttig: Ja, das sind ja zwei verschiedene Dinge, einmal: Clanführer ist auch ein weiter Begriff. Es gibt natürlich einflussreiche Persönlichkeiten aus Gemeinschaften, aus Stämmen in Afghanistan, die nicht sehr stark in die Bürgerkriege der vergangenen Jahrzehnte eingebunden werden, die auch geschwächt worden sind, die man möglicherweise hier und da wieder aufbauen kann. Gespräche mit den Taliban und eine Einbeziehung von Taliban in eine künftige Regierung des Landes wird viel diskutiert, und Sie haben recht, dass es dort sehr viele Leute gibt, die natürlich Blut an den Händen haben. Das hat der UN-Sonderbeauftragte in Afghanistan auch gesagt, er hat gesagt, dass die Taliban sich überlegen müssen, ob sie auf dem Rücken toter Zivilisten sich in Zukunft an der Regierung des Landes beteiligen wollen. Das geht natürlich nicht. Das wollen die Afghanen nicht, aber die wollen eben auch nicht die alten Warlords zurückhaben. Die sind allerdings häufig die Verbündeten des Westens, und das wundert viele Afghanen und die damit auch unsere eigenen demokratischen Regeln dann natürlich infrage stellen.

Ostermann: Herr Ruttig, mir ist noch nicht ganz klar, worin Sie möglicherweise eine Lösung des Problems sehen: Einerseits wird das Militär in Afghanistan gebraucht, andererseits mahnen Sie weitere diplomatische Schritte an. Wären Sie sowas wie ein Chefunterhändler – was würden Sie jetzt konkret tun?

Ruttig: Ich glaube, wichtig ist vor allem, zu sehen, dass man die Probleme in Afghanistan, die sich ja in den letzten zehn Jahren trotz aller Bemühungen, dort Lösungen zu finden, weiter verschärft haben, nicht innerhalb einer sehr, sehr kurzen Zeit lösen kann. Also Zeit ist wirklich das Entscheidende, und gerade da setzen wir uns oder setzen sich unsere Regierungen selbst unter Druck, indem sie immer wieder über Abzugstermine sprechen. Natürlich muss man den Afghanen klar machen, dass die Truppen eines Tages abziehen, zumal sich ja auch die Wut in der afghanischen Zivilbevölkerung steigert, auch gegenüber den NATO-Truppen, weil es halt immer wieder trotz gegenteiliger Erklärungen und auch Bemühungen, die ja durchaus da sind, das zu vermeiden, zu solchen Zwischenfällen kommt. Immer noch sind ja fast ein ... oder über ein Viertel der zivilen Opfer gehen auf das Konto der NATO-Truppen. Also: Zeitgewinn; versuchen, nicht mehr aggressiv vorzugehen auf militärischem Gebiet; in den Gebieten, in denen die Regierung und die ausländischen Truppen noch Kontrolle haben, versuchen, dann wirklich Entwicklungsschritte zu unternehmen, die das Leben der Bevölkerung verbessern und nicht in korrupten Kanälen versinken – aber das sind natürlich alles viele Dinge, die man nicht in drei Wochen machen kann. Da braucht man sehr viel Geduld.

Ostermann: Vor ganz besonders großen Problemen stehen Hilfsorganisationen. Werden sie von Soldaten begleitet, sind sie Teil der Kriegspartei, wagen sie sich allein in einsame Gebiete, droht ja auch Gewalt. Wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus?

Ruttig: Ja, deswegen sage ich: Wir brauchen eine Zeit der Beruhigung. Also die Regierungen und das Militär, auch die Bundeswehr sollten nicht annehmen, dass Hilfsorganisationen ihnen sozusagen auf dem Fuße folgen, wenn sie in bestimmte Gebiete gehen und da ja vielleicht gerade gegen die Taliban gekämpft haben und diese möglicherweise auch vertrieben haben. Es braucht eine Beruhigungsphase, und man muss der Bevölkerung sehr dezidiert mitteilen oder verdeutlichen, dass gerade diese Entwicklungsbemühungen nicht Teil einer militärischen Strategie sind, weil dann scheitern sie, dann landet das alles in einem Topf, und dann kommt es zu Vorfällen, in denen die Taliban halt rechtfertigen können gegenüber der afghanischen Bevölkerung, dass teilweise auch geglaubt wird, dass diese Helfer entweder fürs Militär arbeiten, Spione sind oder, wie in dem Fall der zehn Getöteten in der Provinz Badachschan, christliche Missionare.

Ostermann: Thomas Ruttig, er ist Ko-Direktor des unabhängigen Afghanistan Analysts Networks. Herr Ruttig, danke für das Gespräch!

Ruttig: Ich danke Ihnen!
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