"Zehntausende von Diversanten und Spionen"

Von Renate Blankenhorn · 28.08.2011
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion stellt das Präsidium des Obersten Sowjets die deutsche Minderheit der UdSSR unter Generalverdacht der Kollaboration mit der vorrückenden deutschen Wehrmacht. Am 28. August 1941 erging der Erlass, die seit 1924 bestehende Autonome Republik der Wolgadeutschen aufzulösen und die Bevölkerung nach Sibirien und Zentralasien zu deportieren.
"Heute um vier Uhr morgens überfiel die deutsche Wehrmacht, ohne Forderungen an die Sowjetunion gestellt zu haben und ohne Kriegserklärung, unser Land, griff unsere Grenze an vielen Orten an und bombardierte unsere Städte mit ihren Flugzeugen."

Der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Molotow in seiner Rundfunkansprache über die Ereignisse des 22. Juni 1941. Nur zwei Monate später, am 28. August, erließ Moskau den Ukas "Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rajons leben":

"Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rajons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rajons Sprenganschläge verüben sollen."

Die seit fast zwei Jahrhunderten in Russland ansässige deutsche Minderheit wurde beschuldigt, Feinde des Sowjetvolkes in ihrer Mitte zu dulden. Um Diversionsakte und Blutvergießen zu verhindern, habe das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden,

"die gesamte deutsche Bevölkerung, die in den Wolga-Rajons ansässig ist, in andere Rajons umzusiedeln [...]. Für die Ansiedlung sind die [...] Rajons der Gebiete Novosibirsk und Omsk, der Region Altaj, Kasachstan und weitere benachbarte Gegenden zugewiesen worden."

Am 30. August wird der Erlass in den deutschen Zeitungen der Wolgarepublik veröffentlicht. Für die Bevölkerung kommt diese Weisung vollkommen überraschend.

Seit Katharina II. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um Einwanderer aus Westeuropa geworben hatte, waren die deutschsprachigen Kolonisten an der Wolga, am Schwarzen Meer und in Wolhynien Untertanen der Zaren, später sowjetische Bürger deutscher Sprache und Kultur gewesen. Auf den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution folgten Kollektivierung und Hungersnöte, auch die Repressionen Stalins trafen die Russlanddeutschen hart. Tausende wurden verhaftet und verschwanden für immer. Doch nun hatte Stalin beschlossen, die "eigene" sowjetisch-deutsche Minderheit für den nazideutschen Überraschungsangriff zur Verantwortung zu ziehen, die Wolgarepublik aufzulösen, die Bevölkerung zu deportieren. An die unmittelbar darauf beginnenden Umsiedlungen erinnern sich die Betroffenen noch heute als einen Albtraum:

"Und in zwei Tagen eine ganze Republik, mussten sie all ausgesiedelt, all fort. [...] Das war anfangs September, na sin' mir g'fahre zwei Monat. In ein Waggon da waren Weibsleut, da waren Mannsleut, da ware Kinder und alles, Toiletten keine, nichts, haben sie uns gebracht nach Sibirien". "

In Sibirien und Kasachstan fanden sich die Deportierten ohne Existenzgrundlage dem bevorstehenden Winter und der feindlichen Haltung ihrer Umgebung ausgesetzt. Man hielt sie für deutsche Kriegsgefangene und nannte sie verächtlich "Fritze". Die Männer, später auch die Frauen, wurden zur Zwangsarbeit in der sogenannten Arbeitsarmee eingezogen, wo sie in Fabriken, beim Bahn- und Straßenbau sowie in Bergwerken bei schlechter Ernährung und extremer Kälte bis 1948 Schwerstarbeit verrichten mussten. Kinder und alte Leute blieben sich selbst überlassen in Dörfern und Siedlungen zurück.

" "Der Krieg hat angefangen, hat jeder mit sich zu tun gehabt, un auf uns is' überhaupt nicht geguckt worden, wir sind doch die Deutsche, wir sind doch die Fritze!"

Alle Angehörigen der deutschen Minderheit waren als sogenannte Sondersiedler der Kommandanturverwaltung unterstellt und an die zugewiesenen Orte gebunden, wo sie regelmäßig vorzusprechen hatten. Diese Kommandantur wurde erst zum Jahresende 1955, nach Adenauers Besuch in Moskau, aufgehoben. Danach durften die Deutschen zwar den Wohnort wechseln, nicht jedoch in ihre früheren Siedlungsgebiete zurückkehren.

Durch die Deportation aus weißrussischen, ukrainischen und russischen Siedlungsgebieten verloren Schätzungen zufolge mindestens 800.000 Russlanddeutsche ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage. Unzählige starben an den Folgen der miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Verbannung. Die eigenständige sprachliche und kulturelle Entwicklung wurde jäh unterbrochen. Seit Ende der 1980er-Jahre übersiedelten mehr als anderthalb Millionen ihrer Nachfahren in die Bundesrepublik. In der Russischen Föderation ist ihre Zahl auf etwa eine halbe Million gesunken, die Mehrheit lebt in Westsibirien.