Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda

Von Bettina v. Clausewitz · 09.03.2005
1994 wurden in Ruanda in nur 100 Tagen rund eine Millionen Menschen getötet. Nach zehn Jahren hat jetzt die Soziologin Esther Mujawayo, selbst Überlebende des Genozids und seit damals Witwe, ihre Erfahrungen in einem Buch festgehalten. "Ein Leben mehr", so der Titel des Erzählbuches. Es ist eine persönliche Anklageschrift, aber es versucht auch Antworten auf das Unfassbare zu geben.
" Ich denke, nach zehn Jahren, nach der Fast- Endlösung, ich habe gedacht: Ne, ich akzeptiere das nicht! Die ganze Vergangenheit war vernichtet, und deswegen habe ich gesagt: Ich muss für meine Kinder und auch für meine Leute, ich muss das schreiben.

Ich möchte mit diesem Buch noch mal, ja wie ein bisschen das Leben zurück bringen. Wir kommen von irgendwo und wir können eine Zukunft haben, aber ohne Vergangenheit wir können nicht eine Zukunft haben!"

So ist die offene Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal für Esther Mujawayo ein langer schmerzlicher Prozess in ein neues Leben. Ohne das Alte zu vergessen. Davon erzählt das Buch. Von kleinen bewegenden Details wie einem geschenkten Tragetuch für ihr Baby und von grenzenloser Grausamkeit. "Ein Leben mehr" lautet der Buchtitel, denn nach dem April 1994 war das alte Leben der ruandischen Tutsi-Bevölkerung in Massengräbern und verkohlten Ruinen verschüttet. Und unter blühenden Blumen.

"Heute habe ich fast wieder Frieden geschlossen mit den Bougainvilleen, erzählt Mujawayo. Ich war lange Zeit wütend auf sie, denn nach dem Genozid im April blühten sie überall, als sei nichts gewesen, das nahm ich ihnen übel. Nach einem Genozid glaubst du, Blumen werden nie wieder blühen, der See wird nie wieder so still daliegen ... Du glaubst, Schönheit dürfe es nicht mehr geben."

Drei Monate dauerte das lang geplante Morden der Hutu-Milizen, bei dem etwa eine Millionen Angehörige der Tutsi qualvoll starben. Esther Mujawayo verliert unter anderem ihren Ehemann Innocent und das Elternhaus auf dem Hügel unter dem großen Baum, die Mutter und den Vater, einen geachteten Lehrer und Laienprediger. Zusammen mit vielen anderen, die sich zu ihm in die Kirche geflüchtet haben, wird er von den eigenen Nachbarn niedergemetzelt. In Gedanken ist Mujawayo nach wie vor mit dem Vater im Gespräch, wie sie schreibt:

"Ich zweifle. Ich finde keine Ruhe. Mein Vater war immer gelassen, trotz aller Schwierigkeiten. Und in solchen Momenten denke ich manchmal, vergeben hilft vielleicht doch. Manchmal sage ich mir: "Na gut, ich vergebe ihnen." Aber meine Vergebung hat rein egoistische Gründe. Und nach jedem Versuch zu vergeben, wohl wissend, dass ich es nur tue, um meine Ruhe zu haben, fühle ich mich völlig erschlagen."

An solchen Stellen wechselt Esther Mujawayo beim Erzählen immer wieder von der Vergangenheitsform in die Gegenwart, auch wenn sie berichtet, wie sie mit Gott um ihren Glauben ringt. Und die algerische Journalistin Souâd Belhaddad, die ihre Geschichte aufgeschrieben hat, lässt die Emotionen und Widersprüche stehen. So kommt - einem Bumerang gleich- immer wieder die unlösbare Frage: "Wie war das möglich?" Dass Lehrer ihre Schülerinnen vergewaltigen, dass Nonnen Flüchtlinge abweisen und Nachbarinnen zu Mörderinnen mit der Machete in der Hand werden? Mujawayos Leid wird spürbar und ihre Rachegelüste. Aber Bitterkeit, Zynismus oder Selbstmitleid fehlen. 1994 ist sie 36 Jahre alt und beginnt einen Kampf darum, innerlich zu überleben. Diesen Triumph will sie den Mördern nicht auch noch gönnen, vor Schmerz verrückt zu werden.
"Ich kann dir nicht genau sagen, wann, aber es kam ein Moment, an dem ich mir sagte: ‚Esther, wenn du überleben willst, musst du dir bewusst machen, musst du ins Auge fassen, was dir geblieben ist, und nicht, was du verloren hast.’"

Das ist der Schlüssel zum Überleben. Was ihr geblieben ist, sind die drei Töchter, damals zwischen sechs Monaten und fünf Jahren alt, ein Haus in der Hauptstadt Kigali und ihr Arbeitsplatz als Soziologin bei der englischen Organisation Oxfam. Kurz nach dem Genozid macht sie in England eine Ausbildung als Psychotherapeutin und kehrt ein Jahr später nach Ruanda zurück. Dort hat sie zusammen mit anderen Frauen die Selbsthilfsorganisation "Avega" gegründet, für die Witwen des Genozids, von denen viele wegen der unzähligen Vergewaltigungen HIV infiziert sind. Esther Mujawayo beginnt bei Avega "Herzen zu pflegen", wie sie es nennt, und lernt dadurch auch mit ihren eigenen Traumata umzugehen.

"Durch die ganze Unmenschlichkeit ich habe immer Menschlichkeit gesehen. Die Unmenschlichkeit war so groß dass der erste Gedanke ist: Ne, alle Menschlichkeit ist weg! Aber durch diese Unmenschlichkeit es waren immer kleine Signale. Und ich denke, das ist auch, was ich versuche in dem Buch zu sagen: Es gibt immer Leute, die sind Mensch und bleiben Mensch. Und das gibt Hoffnung. Ich versuche, Hoffnung zu haben. Ohne Hoffnung wir sterben, ja."

Mittlerweile lebt Esther Mujawayo mit den drei Töchtern im Teenager-Alter in Neukirchen-Vluyn. Sie hat einen Deutschen geheiratet, der lange in Ruanda gelebt hat, und arbeitet als Therapeutin im Psychosozialen Zentrum in Düsseldorf mit traumatisierten Flüchtlingen – vor allem aus Afrika. Aber wenn die Töchter groß sind, will sie als Therapeutin zurück nach Ruanda, auch wenn das bedeutet, mit den untergetauchten Mördern von gestern Seite an Seite zu leben.

Esther Mujawayo: Ein Leben mehr. Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda
Übersetzt von Jutta Himmelreich
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2005
360 Seiten, 19.90 Euro