Zbigniew Herbert: "Gesammelte Gedichte"

400 Versuche zu begreifen

Der polnische Schriftsteller Zbigniew Herbert.
Der polnische Schriftsteller Zbigniew Herbert © picture alliance / dpa / epa Skarzynski
Von Katharina Döbler · 21.01.2017
Der polnische Dichter Zbigniew Herbert wurde unter der deutschen Besatzung erwachsen - und wurde diese Erfahrung nie los. Seine Lyrik ist intellektuell, gewitzt und selbstironisch und jetzt als Gesamtwerk erschienen.
Zbigniew Herbert, geboren 1924 in Lemberg und 1998 in Warschau gestorben, gehört zu einer polnischen Generation, die unter der deutschen Besatzung erwachsen wurde und diese Erfahrung nie losgeworden ist. Es ist auch die Generation der großen Dichter von internationalem Rang: Wislawa Szymborska, Meisterin bildstarken Understatements und Nobelpreisträgerin, zählt dazu und Tadeusz Rózewicz, der tiefenscharfe Melancholiker. Den ein Jahrzehnt älteren Czeslaw Milosz muss man in diesem Zusammenhang ebenfalls nennen, auch er bekam den Nobelpreis.
In diesem illustren Quartett fiel Zbigniew Herbert die Rolle des intellektuellen und selbstironischen Weltbetrachters zu. Diesen Ruf verdankt er vor allem seinem lyrischen alter Ego, dem Herrn Cogito, der erstmals in den 1960er-Jahren auftrat und Anfang der 1970er publiziert werden konnte. Herr Cogito war poetologisches Programm und Reflexionsfigur in einem.

Herbert räsoniert über die Substanz der Dichtung und der Welt

"Herr Cogito traute niemals / den Kunststücken der Phantasie (....) er lebte in einem Haus ohne Keller / Spiegel und Dialektik".
In Gestalt des Cogito räsonierte Herbert über die Substanz der Dichtung und, ja, der Welt. Er nutzt Phantasie auf seine Weise:
"Er wollte aus ihr ein Werkzeug / des Mitgefühls machen // er wollte restlos begreifen".
Eine Poesie der Empathie also, die Herbert nicht nur verkündet, sondern auch in vielen seiner Gedichte umgesetzt hat; einer Empathie, die sich seinen Lesern mitteilt und sie in die Gesamtheit der Welt mit einbezieht. Zwölf Phänomene führt Herr Cogito an, die zu begreifen wären, darunter "die Natur des Diamanten", "den Wahn der Völkermörder", "die Träume der Maria Stuart", "die Angst der Neandertaler", "den Aufstieg und Fall einer Eiche", "den Aufstieg und Fall von Rom".

Bezug zur Antike, um der Zensur zu entgehen

Das Bewusstsein von Geschichte und Geschichtlichkeit ist zentral in Herberts gesamtem Werk. Sein Bezug auf die klassische Antike, Thema vieler Gedichte und essayistischer Prosa, hatte nur anfänglich und nur zum Teil mit dem Versuch zu tun, der Zensur und den Anforderungen des sozialistischen Realismus zu entgehen. Er begriff sich selbst und sein Werk als Teil eines Ganzen: der Natur, des Abendlands, der Menschheit. Große Worte. Aber Zbigniew Herbert war tatsächlich jemand, der solche Begriffe einlösen konnte – und das in aller Bescheidenheit.
Der vorliegende Band versammelt nun alle Gedichte, die Herbert in seine insgesamt neun Lyrikbände zwischen 1956 und 1998 aufgenommen hat – und einige wenige, die er verworfen hat: mehr als 400 Versuche zu begreifen.
Dem lyrischen Werk dieses großen Dichters über die Jahrzehnte noch einmal zu folgen, und seine Weite, sein Wissen und seinen Witz sich wieder zu erlesen – das ist eine reine Freude.

Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte
Suhrkamp, Berlin 2016
664 Seiten, 49,95 Euro

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