"Zahl von 55 Toten ist ein zynischer Witz"

Moderation: Liane von Billerbeck · 26.04.2006
Der Gründer der Gesellschaft für Strahlenschutz, Edmund Lengfelder, hat der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgeworfen, die Folgen aus der Atomkatastrophe von Tschernobyl zu verharmlosen. Die in einer WHO-Studie über die Folgen des Unglücks genannten 55 Opfer seien ein "zynischer Witz", so Lengfelder. Hajo Zeeb von der WHO widersprach dem Vorwurf der Bagatellisierung der Folgen.
Von Billerbeck: Manchmal scheint es, als lebte die sowjetische Verharmlosungspolitik der Reaktorkatastrophe und ihre Folgen von Tschernobyl weiter, so wie die sowjetische Führung erst Tage später und schleppend informierte, so ging es mit der Informationspolitik über die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl weiter.

Auch im Westen ist das mit offiziellen Informationen darüber so eine Sache. Verlässt man sich auf eine Studie, die von der internationalen Atomenergieorganisation IAEA zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation WHO erstellt wurde, dann findet man auf den 600 Seiten nur 55 Menschen, die durch Tschernobyl ums Leben gekommen sind. Die Organisation "Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW) spricht von etwa 10.000 bis 22.000 Krebs- und Leukämietoten bis 2015 und unter den so genannten Liquidatoren, also den Menschen, die am Kraftwerk gearbeitet haben, von sogar 50.000 bis 100.000 Toten.

Wie viele Menschen tatsächlich durch und nach Tschernobyl starben, erkrankten oder lebenslang geschädigt wurden, darüber jetzt unser Streitgespräch im Radiofeuilleton. Wir haben natürlich versucht, einen Gesprächspartner von der IAEO, von der internationalen Atomenergiebehörde zu bekommen, dort wollte sich jedoch niemand auf dieses Streitgespräch einlassen. Dafür allerdings von der WHO, die mit der IAEO in einer Studie, wie gesagt, verbandelt ist. Und dort in Genf begrüße ich von der Weltgesundheitsorganisation Professor Hajo Zeeb, er ist Mediziner und Philosoph, hat am deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg gearbeitet. Guten Tag. Herr Professor Zeeb.

Prof. Hajo Zeeb: Guten Tag.

Von Billerbeck: Hier im Studio sitzt Professor Edmund Lengfelder. Er ist am Otto-Hug-Strahleninstitut der Uni München tätig und hat zudem 1990 die Gesellschaft für Strahlenschutz gemeinsam mit dem ostdeutschen Physiker Sebastian Pflugbeil gegründet. Guten Tag.

Prof. Edmund Lengfelder: Guten Tag.

Von Billerbeck: Wie belastbar sind denn nun die Daten, die in dieser Studie, die die WHO und die IAEO gemacht haben, also wo man von 55 Toten nur spricht?

Lengfelder: Also diese 55 Toten halte ich für einen zynischen Witz. Und zwar aus folgendem Grunde: Es wird hier nicht dazu gesagt, dass diejenigen, die 55, sich nur beziehen auf die Zahlen von Menschen, die nachweisbar aufgrund einer sehr hohen absorbierten Strahlendosis ums Leben gekommen sind.

Von Billerbeck: Also direkt durch die Strahlen.


Lengfelder: Direkt durch Strahlenkrankheit und Strahlentod. Als Folge von Tschernobyl müssten wir viel mehr Menschen miteinbeziehen, insbesondere alle Menschen, die als Folge dieses Einsatzes an dem havarierten Reaktor zu Schaden gekommen sind und die in der Folge dieser Havarie dann gestorben sind, sei es an einer der Erkrankungen, Leukämie, aber auch an vielen anderen scheinbar nicht damit zusammenhängenden Erkrankungen. Auch beziehe ich mit ein die Liquidatoren insbesondere, die wegen ihrer körperlichen Gebrechlichkeit, obwohl sie junge Menschen waren, also 30-, 35-Jährige, von ihren Frauen verlassen wurden, die Kinder sind ihnen davon gelaufen, sie haben die Arbeit verloren, sie haben sich dem Suff hingegeben und irgendwann umgebracht. Mir geht es um die Frage: Ist in der Folge von Tschernobyl so und so viel Menschen Schaden entstanden bis hin zum Tod, der mit dem Ereignis zusammenhängt? Und da ist die Zahl auf jeden Fall höher!

Von Billerbeck: Herr Zeeb, wie kommen Sie denn dazu, nur 55 Tote zu nennen und diese Zahlen, die Herr Professor Lengfelder hier erwähnte, beziehungsweise der IPPNW, dass die bei Ihnen gar nicht vorkommen?

Zeeb: Ich muss Ihnen natürlich widersprechen, dass wir bagatellisieren, das kann man in keinstem Falle sagen. Aber Herrn Lengfelder hat genau auf die Probleme hingewiesen, die bei einer wissenschaftlichen Erkundung dieses Problems eben im Raum stehen und das ist die Tatsache, welche Probleme, welche Krankheiten, welche Todesfälle kann man nun diesem Unglück zuordnen. Und hier diese Toten beziehen sich tatsächlich auf die, durch die Strahlen erkrankten und gestorbenen Personen. Alle anderen Personen, das geben wir zu, es gibt natürlich eine Reihe von Personen, die natürlich großes Unheil und auch Erkrankungen erlitten haben. Es ist allerdings eben mit wissenschaftlichen Methoden, und darauf bezieht sich unser Bericht, nicht einfach die Zuschreibung durchzuführen: Das hat etwas mit Tschernobyl zu tun und das nicht. Aber verharmlost wird hier nichts. Wir sagen ganz genau, dass es hier große gesundheitliche Folgen und Umweltfolgen durch diesen Unfall gibt.

Von Billerbeck: Aber es gibt ja auch andere Studien, also jenseits von der Ihren. Zum Beispiel gibt es eine israelisch-ukrainische Studie, darin steht, dass es bei neugeborenen Kindern in der Ukraine ein siebenfach höheres Risiko gibt, genetisch zu erkranken. Es treten Missbildungen, Fehlgeburten auf, Schilddrüsenkrebs 100 Prozent mehr. Das sind ja drastische Zahlen. Denen kann man sich kaum entziehen. Würden Sie sagen, dass Sie sagen, dass da die Datenlage auch falsch oder schlecht ist?

Zeeb: Ich wollte vielleicht noch mal kurz dazu Stellung nehmen, wie dieser Bericht entstanden ist und das ist jetzt nicht eine eigene...

Von Billerbeck: Ihr Bericht jetzt?

Zeeb: Unser Bericht der WHO. Wir haben mit vielen Experten weltweit, alle vorhandene Literatur, alle vorhandenen Berichte und die guten Berichte aus den staatlichen Stellen zusammengeführt...

Von Billerbeck: Was sind denn gute staatliche Berichte und die, die den Ansprüchen genügten? Wer hat denn da den Maßstab gesetzt?

Zeeb: Das sind die Experten, die in diesem Tschernobylforum zusammengearbeitet haben, beziehungsweise eben in unserm Expert Group Health.

Von Billerbeck: Herr Professor Lengfelder, wie ernst zu nehmen sind die Experten, die die WHO in dieser Studie versammelt hat? Und wie unabhängig ist die WHO denn von der Atomenergiebehörde?

Lengfelder: Ich möchte zurückgehen auf das Jahr 1990. Da gab es ein großes Projekt, dass so genannte Internationale Tschernobylprojekt, in dem unter Federführung der IAEA, die WHO, die Europäische Gemeinschaft und 27 westliche Staaten zusammengearbeitet haben mit etwa 200 westlichen Wissenschaftlern und 500 damals noch sowjetischen Wissenschaftlern. Am Ende dieses Jahres stand die Zahl der Schilddrüsenkarzinome bei Kindern fest: in Weißrussland mehr als 30 Mal höher, als der Zehnjahresdurchschnitt vor Tschernobyl. Diese Zahl einer 30-fachen Zunahme eines Tumors, der wegen der Organspezifität des Jods für die Schilddrüse durch nichts anderes zustande gekommen sein konnte. Diese Zahl wurde von der Weltorganisation, IAEA, WHO etc. schlichtweg unterdrückt und der Welt wurde mitgeteilt: "Es gab keine Gesundheitsstörungen, die einer Strahlenbelastung zugeordnet werden konnten". Ich zitiere hier wörtlich.

Von Billerbeck: Was sagen Sie dazu, Herr Professor Zeeb, von der WHO?

Zeeb: Ich kann nur sagen, dass ist jetzt 15, 16 Jahre her. Es ist ganz klar, da sind Herr Lengfelder und ich ja auch einig oder die WHO auch einig, dass...

Von Billerbeck: Und das heißt diese Praxis ist jetzt abgestellt, also so etwas passiert nicht mehr?

Zeeb: Nein, lassen Sie mich ausreden. Ich wollte sagen, dass das Thema Schilddrüsenkrebs natürlich das bestimmende Thema dieses Unfalls war. Das ist mittlerweile auf jeden Fall komplett anerkannt. Man kann jede der Verlautbarungen lesen. Das sind große Zahlen, die da entstanden sind, die auch weitestgehend dem Unfall zuschreibbar sind. Also da besteht kein Zweifel drüber.

Von Billerbeck: Das Problem ist ja, dass man vielleicht wissen muss, dass es kein Zufall ist, dass die WHO und die IAEO zusammenarbeiten. Es gibt, wie ich gelesen habe, einen Vertrag zwischen der IAEO und der Weltgesundheitsorganisation, aus dem Jahr 1959, dass man sich sozusagen nicht in die Parade fährt. Dass die WHO also anerkennt, dass die internationale Atomenergiebehörde für den Einsatz von Atomenergie ist und dass man im Zweifel auch bestimmte Informationen zurückhält. Das ist ja eine quasi vertraglich vereinbarte Täuschung der Öffentlichkeit. Was können Sie dazu sagen?

Zeeb: Ich würde es nicht so nennen. Sie wissen, dass es natürlich selbstverständlich ist, dass die 29 UN-Organisationen in gewisserweise sich untereinander absprechen. Es können nicht alle das gleiche machen und in dem Rahmen gibt es auch die Absprache von 1959. Ich kann, wie gesagt, nur wiederholen, dass das Forum der Umbrella war, die Deckorganisation, mit der wir hier gemeinsam gearbeitet haben. Die WHO hat den Gesundheitsbericht alleine gemacht und hat ansonsten nur im Rahmen des Forums zusammengearbeitet. Wir haben...


Von Billerbeck: Aber der Vertrag von 1959, dass Sie im Zweifel Informationen zurückhalten, der gilt ja noch.

Zeeb: Da steht nicht, dass wir im Zweifel Informationen zurückhalten.

Von Billerbeck: Ja, letztlich ist es dann das.

Zeeb: Nein, da steht vielmehr drin, dass wir untereinander in Kenntnis setzen. Es gibt keinen Fall, wo die WHO Informationen zurückgehalten hat und das wird sie auch weiterhin nicht machen. Sie hat gar keinen Anlass dazu. Es gibt verschiedene Aufgabenbereiche, die wir haben, die die WHO hat und wir haben weder Interesse, noch Zeit dazu, was die IAEO macht und ob wir da jeweils sie bitten wollen, Informationen zurückzuhalten. Es geht ...

Von Billerbeck: Das habe ich jetzt richtig verstanden, Sie haben kein Interesse zu prüfen, was die IEAO macht. Ihr Ziel ist es doch aber, Krankheit und Unheil von der Weltbevölkerung abzuhalten. Wenn also die IAEO etwas tut, was diesem, Ihrem Ziel entgegenspricht. Dann müssten Sie doch eigentlich tätig werden.

Zeeb: In dem Moment würden wir tätig werden und das prüfen wir natürlich auch. Aber ansonsten ist es halt so, dass wir unabhängig arbeiten und nur in den Bereichen, wo die IAEO auch selber uns natürlich mitteilen muss, wenn sie in unserem Bereich sozusagen arbeitet, was sie tut und wir gleichzeitig sehen, da haben wir Interessen, die gegeneinander laufen. Dann wird man auch aufeinander zugehen und sagen: Passt mal auf, das ist unser Bereich das ist euer Bereich. Und wir sind die Weltgesundheitsorganisation.

Von Billerbeck: Herr Professor Lengfelder sehen Sie das auch so? Man teilt sich die Aufgaben. Oder ist es etwas anderes zwischen WHO und zwischen IAEO?

Lengfelder: Dieser Vertrag aus dem Jahr 1959, er währt ja weiter fort und es gibt sehr aktive Bemühungen von NGOs, dass dieser unselige Vertrag endgültig annulliert wird und den heutigen Erfordernissen angepasst wird. Und da steht wortwörtlich drin, dass beide Organisationen, die WHO und die IAEA, übereinstimmen, dass es zweckmäßig sein kann, gewisse Informationen nicht weiterzugeben, das heißt vertraulich zu behandeln. Und damit stellt sich die WHO eigentlich selbst ins Abseits. Ich wünschte mir, dass die WHO klar sagt, das machen wir nicht mehr, der Vertrag wird annulliert.

Und der zweite Punkt, wo ich die WHO selber in der Bringschuld sehe: Die Anerkennung kindlichen Schilddrüsenkarzinome, die ist inzwischen erfolgt, obwohl sie eigentlich hätte 1991 im Frühjahr folgen müssen. Sie kommt mehr als zehn Jahre zu spät. Und diese fehlende Anerkennung damals hat ja auch dazu geführt, dass über Jahre die UNO keine adäquaten gesundheitlichen Hilfsprogramme für die betroffene Bevölkerung dort gestartet hat. Die Anerkennung der vielen Schilddrüsenkarzinome bei Erwachsenen - Ich spreche jetzt speziell für Weißrussland, wo wir uns wirklich perfekt auskennen - diese Erwachsenenkarzinome werden ja von der WHO weitgehend in Abrede gestellt. Und wenn wir uns die zehn Jahre vor Tschernobyl anschauen und die Entwicklung der Erwachsenen nach 1986, dann sieht das ein Blinder mit Krückstock. Und wenn ich sehe wenn eine auch unter Beteiligung von WHO-Fachleuten zusammengesetzte Kommission dann von Krebs zu Krebs sagt: Dieser stammt nicht von Tschernobyl, dieser stammt von Tschernobyl...

Von Billerbeck: Kann man das so eindeutig zuordnen?

Lengfelder: Das kann man gar nicht so zuordnen. Man kann insbesondere nicht sagen, wenn jemand 300 Kilometer von Tschernobyl weg wohnte und Schilddrüsenkrebs bekam, der kann nicht von Tschernobyl kommen. Das ist deswegen einfach nicht sinnvoll, weil das Prinzip der Kollektivdosis genau diesem Selektieren oder Zuordnen von Tumoren wiederspricht und jeder, der in der Strahlenmedizin oder Strahlenbiologie sich auskennt, weiß: Die Kollektivdosis-Prinzipien lassen auch Tumoren, die 600, 700 Kilometer entfernt aufgetreten sind, der Strahlung zuordnen. Und wir haben das gemacht, indem wir in Tschechien, entfernungsmäßig rund 1000 Kilometer von Tschernobyl, die Schilddrüsenkarzinome bei der Bevölkerung untersucht haben und dabei festgestellt haben, dass ein hochsignifikanter Anstieg der Schilddrüsenkarzinome bei den Frauen nach Tschernobyl dort festzustellen ist, obwohl Tschechien weniger von radioaktivem Jod aus Tschernobyl belastet wurde als Bayern. Das heißt ganz klar, wenn man systematisch danach sucht, wird man das auch finden. Leider war bisher in Bayern niemand bereit, mit uns gemeinsam diese Studie zu machen, weil sie natürlich auch dann politische Konsequenzen einfordern würde oder zumindest die Politiker nachdenklich machen würde, dass auf diese große Distanz auch ein Radionuklid wie das Jod 131 wirksam wird, obwohl von Bayern aus gesehen Tschernobyl dann 1700 Kilometer entfernt ist.

Von Billerbeck: Herr Zeeb, eine Frage an Sie zum Schluss. Steht es denn bei Ihnen zur Debatte, dass man diese vertragliche Vereinbarung zwischen WHO und IAEO kündigt?

Zeeb: Also, wir haben das jetzt nicht bisher direkt debattiert. Das wird immer wieder mit uns angesprochen dieses Thema aber, da wir das durchaus anders sehen als die externe Öffentlichkeit, da diese Sachen im Großen und Ganzen keine Relevanz für unsere tägliche Arbeit haben, weil wir unsere Arbeit unabhängig machen, ist das tatsächlich nicht so bedeutsam, wie es nach außen hin erscheint. Da wird regelmäßig drauf geschaut und wenn es sinnvoll ist, dass zu kündigen oder das zu ändern, dann wird das auch gemacht werden, aber im Moment...

Von Billerbeck: Sie sehen das im Moment nicht für sinnvoll an?

Zeeb: Da, eben nachweisbar diese Sache hier unabhängig gelaufen ist, gibt es keinen Grund, warum die WHO jetzt an dieser Stelle sagen würde, wir müssen das machen. Was ich vielleicht noch mal anschließen möchte ist, es wird immer argumentiert, als wenn die WHO irgendeinen Grund hätte hier, als wenn sie eine Motivation haben könnte, die Gesundheitsfolgen zu minimieren. Das ist nicht der Fall. Wir haben kein Grund dafür, dass zu tun. Wir würden uns gerne auch belehren lassen, wenn gute wissenschaftliche Studien da sind. Das wird man in Zukunft sehen, wohin sich die Fallzahlen noch entwickeln. Wenn es gute Evidenz gibt, wird die WHO die erste sein, die das auch anerkennen wird.

Von Billerbeck: Ich vermute, das wird dann die WHO selbst entscheiden. Das war unser Streitgespräch über die Informationspolitik nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sprachen wir mit Professor Hajo Zeeb von der WHO in Genf und Professor Edmund Lengfelder von der Uni München. Herzlichen Dank an Sie beide!
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