Yves Petry: "In Paradisum"

Mann beißt Mann

US-Schauspieler Anthony Hopkins als Dr. Hannibal Lecter trägt im Film eine Gesichtsmaske mit Beißschutz (undatiertes Szenenfoto). Der Kannibale Hannibal Lecter führt die Liste der Film-Bösewichte an. Insgesamt 100 «Heroes» (Helden) und «Villains» (Bösewichte) Hollywoods sind am 3.6.2003 im US-Fernsehen vorgestellt worden. Das American Film Institute präsentierte das Ergebnis einer Umfrage unter 1500 Schauspielern, Regisseuren und Kritikern, die aus einer Liste von 400 Filmcharakteren ihre Wahl treffen konnten.
Inbegriff des hochintelligenten, fiesen Psychopathen und Kannibalen: Hannibal Lecter (Anthony Hopkins). © picture alliance/dpa/dpa-film Uip
Von Frank Kaspar  · 25.05.2016
Yves Petry nimmt die bizarre Geschichte des "Kannibalen von Rothenburg" als Ausgangspunkt für seinen Roman "In Paradisum". Aus dem realen Kriminalfall entwirft der flämische Schriftsteller ein Drama über die Haltlosigkeit des modernen Menschen.
Zwei Männer vereinbaren, dass einer den anderen tötet und anschließend Teile seines Körpers verzehrt. Den Anstoß für Yves Petrys Roman gab die Gewalttat des so genannten "Kannibalen von Rotenburg" im Frühjahr 2001. Aber der Autor verwendet nur wenige Details der wirklichen Vorfälle und erfindet seine eigene Geschichte. Sie handelt von zwei Menschen, die jeden Halt verlieren und ihn aneinander wieder finden – in einer tödlichen Umklammerung.
Der Protagonist Marino Mund, der dabei zum Täter wird, steht in einer langen Tradition verstörter und verstörender Charaktere, die nicht erwachsen werden können. Er könnte aus einer Erzählung von Kafka stammen oder aus Alfred Hitchcocks Thriller "Psycho". Mit über dreißig Jahren lebt er noch allein mit seiner Mutter. Als diese einer religiösen Gemeinschaft beitritt, wird sie dem nüchtern und rational denkenden Sohn beängstigend fremd. Als sie stirbt, bleibt er einsam und orientierungslos zurück.

Bruno Klaus verliert seinen Glauben

Bruno Klaus, Marinos Opfer, erscheint dagegen zunächst souverän und voller Elan. Als leidenschaftlicher Literatur-Dozent bringt er seinen Studenten die Klassiker der Moderne nah. Am Beispiel von Beckett, Kafka und Nabokov sollen sie zu kritischen, freien Individuen heran reifen. Aber Bruno Klaus verliert seinen Glauben an die Literatur. Die Welt der Fiktion erscheint ihm plötzlich blutleer und lebensfern, sein bisheriges Leben sinnlos. Er sehnt sich nach Stille. Bei dem schlichten Marino glaubt er sie zu finden.
In einer ungewöhnlichen Verschränkung der Perspektiven macht Yves Petry diesen Bruno Klaus zum Erzähler des Romans. Nachdem er von Marino getötet wurde, spukt Bruno seinem Freund und Vollstrecker im Kopf herum. In der Gefängniszelle diktiert er dem mittlerweile Verhafteten ihre gemeinsame Geschichte.
Yves Petry verleiht dem ambivalenten Charakter dieses Erzählers auf mitreißende Weise Ausdruck. Brunos Intelligenz und Belesenheit, seine Arroganz und sein Sarkasmus zeigen sich in einer fiebrigen, sprunghaften Erzählhaltung. Mit großer Genauigkeit erfasst Petry die Gefühle der beiden gegensätzlichen Charaktere. Gerade in diesen Passagen zeigt sich die besondere Präzision des Übersetzers Gregor Seferens.

Intimität durch Fleisch und Blut

Der nüchterne Informatiker Marino, der jedem poetischen Bedeutungsüberschuss der Sprache misstraut, und der enttäuschte Literatur-Liebhaber Bruno treffen einander im morbiden Wunsch nach einer "Beziehung in Fleisch und Blut, viel ursprünglicher als der Austausch von Worten, viel intimer, als ein geschlechtliches Verhältnis sein konnte."
Ist diese Geschichte zweier Irrläufer, die ihrem Leben nur im Fluchtpunkt des Todes einen gemeinsamen Sinn geben konnten, am Ende mehr als die romantische Nachdichtung eines bizarren Verbrechens? Ja, denn Yves Petrys kluger und gewagter Roman zielt auf eine Frage, die über den Einzelfall weit hinausweist: Wo kann ein Mensch der Moderne sich noch gesehen, gehalten und zugehörig fühlen, wenn Religion ihm leblos, Wissenschaft gefühllos und die Versprechen der Literatur leer erscheinen? Von den Vielen, die auf der Suche nach Antwort umher irren, sind diese beiden nur in eine besonders verschattete Zone geraten.

Yves Petry: In Paradisum
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Luftschacht Verlag, Wien 2016
288 Seiten, 24 Euro

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