Xinran: "Kleine Kaiser"

Kindheiten voller Überkontrolle und Einsamkeit

Ein chinesischer Grundschüler isst sein Schulessen mit hölzernen Stäbchen.
Die "Kleinen Kaiser" durften als Kinder nicht einmal spielen, damit sie sich ja nicht verletzten, beschreibt Xue Xinran in ihrem Buch. © picture alliance / CHINAFOTOPRESS / MAXPPP
Von Susanne Billig · 03.05.2016
Von den düsteren Seiten der Ein-Kind-Politik in China erzählt die chinesisch-britische Journalistin Xue Xinran anhand von einfühlsamen Porträts. Verwöhnt, aber ohne emotionale Wärme aufgewachsen, versuchen diese "Kleinen Kaiser", sich aus dem Familienkorsett zu befreien.
Der chinesische Austauschstudent Du Zhuang sitzt zitternd vor Angst auf der Bettkante. Als seine Gastgeberin ihn nach dem Grund fragt, bricht es aus ihm hervor: Die britischen jungen Frauen mit ihren kurzen Röcken erschüttern ihn. Was geht da nur in seinem Körper vor sich? Er hat keine Ahnung.
Begebenheiten wie diese haben die chinesisch-britische Autorin Xinran dazu bewogen, ihr neues Buch "Kleine Kaiser" zu schreiben. In sensiblen Porträts widmet sie sich darin der ersten Einzelkind-Generation, die Chinas Ein-Kind-Politik hervorgebracht hat. Anfang der 1980er-Jahre geboren, stehen diese Menschen mit Mitte 30 nun in der Blüte ihres Lebens und die Autorin möchte wissen: Was haben sie in Kindheit und Jugend erlebt? Welches Verhältnis pflegen sie zu ihren Eltern und wie kamen sie mit Berufseinstieg und Familiengründung zurecht?
Dunkle Schatten liegen auf den Lebensgeschichten, die Xinran in ihrem Buch versammelt. Du Zhuang, der mit 21 Jahren zum Auslandsstudium nach England kam, erweist sich als unfähig, seinen Koffer auszupacken, ein Hemd auf einen Kleiderbügel zu hängen oder mit einem Messer ein Stück Gemüse durchzuschneiden. In China hatte seine Mutter alles für ihn gemacht – seine Aufgabe bestand darin, 16 Stunden am Tag zu lernen.

Leistung und Ergebenheit

Die ersten Einzelkinder Chinas durchlebten Kindheiten voller Überkontrolle und Einsamkeit. Auf ihrer Tagesordnung standen Leistung und Ergebenheit in den elterlichen Willen. Manche dieser "Xia Huangdi", "kleinen Kaiser", wie China seine Einzelkinder nennt, durften als Kinder nicht einmal spielen, damit sie sich ja nicht verletzten. Besonders bitter: Das Elend schrieb sich in die Folgegeneration fort, wie die Autorin zeigen kann. Aus den überwachten, verwöhnten Einzelkindern sind nicht selten Eltern geworden, die für ihre Kinder kaum emotionale Wärme aufbringen.
Nah an den Menschen und bestens vertraut mit den Traditionen und politischen Umbrüchen in ihrem Land – Xinran bietet einen Einblick in chinesisches Gegenwartsleben, wie man ihn sich dichter und intimer nicht wünschen kann. Der besondere Reiz dieser Biografien liegt in der persönlichen Aura, die Xinran entfaltet. Die Autorin pflegt zu allen ihren Protagonisten nahe, freundschaftlich-mütterliche Beziehungen und verströmt Liebe aus jeder Pore. Das lässt ihr Buch für westlichen Geschmack anfangs kitschig wirken, doch Xinrans Sorge um ihre Einzelkinder entfaltet bald einen solchen Liebreiz, dass man sich ihrem Stil gerne ergibt.

Verstoßene Mädchen

Zudem weiß sie, wovon sie spricht: Seit Jahren schreibt die Journalistin über das Leben chinesischer Frauen und ihre Hilfsorganisation "The Mothers' Bridge of Love" kümmert sich um chinesische Kinder in westlicher Pflegschaft – vor allem um Mädchen, die im Zuge der Ein-Kind-Politik von ihren Familien verstoßen wurden.
Am Ende gibt es auch Hoffnung in diesem Buch: Nicht nur hat die chinesische Regierung die Familienregeln inzwischen gelockert – viele der Einzelkinder, denen die Autorin mit Rat und Tat beiseite stand, konnten sich auch aus dem alten Korsett befreien und ein neues Leben beginnen.

Xinran: Kleine Kaiser – Geschichten über Chinas Ein-Kind-Generation
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller
Droemer Verlag, 19,99 Euro

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