Xinjiang

Chinas Pulverfass

Von Ruth Kirchner  · 03.07.2014
Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit macht die chinesische Regierung in der Unruheregion Xinjiang das, was sie für richtig hält. So wurden 113 Personen wegen terroristischer Aktivitäten zu teilweise lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Wie man von Peking aus auf die Provinz Xinjiang blickt, kann man dieser Tage fast täglich im chinesischen Staatsfernsehen besichtigen. Mal werden Massenprozesse in Sportstadien gezeigt – die Angeklagten in orangefarbenen Häftlingswesten zusammengepfercht auf Lastwagen. Mal werden verurteilte Gewalttäter mit Hand-schellen und Fußfesseln vorgeführt - kurz vor der Hinrichtung. Oder die jüngste "Erfolgsmeldung" der Behörden, die Verhaftung von über 380 Terrorverdächtigen. Die ersten Ergebnisse einer neuen Kampagne gegen den Terrorismus, wie der Vize-Sicherheitschef von Xinjiang, Wang Qianrong im Fernsehen verkündete.
"Seit dem Beginn dieser Sonderkampagne haben die Sicherheitsbehörden in der gesamten Region 32 gewalttätige Terroristenzellen ausgehoben, über 380 Verdächtige festgenommen und 65 flüchtige Verdächtige gefasst, die in Terror-Gewalt verwickelt sind. Wir haben 264 Sprengsätze sichergestellt, 3,1 Tonnen Sprengstoff und 357 Messer verschiedener Art."
Gewalt der letzten Monate hat Peking aufgeschreckt
Die chinesische Führung will zeigen: Sie hat alles im Griff und greift hart durch. Denn die Anschläge und Gewalt der letzten Monate haben Peking aufgeschreckt: 29 Tote bei einer Messerattacke im März in Kunming im Südwesten; drei Tote und fast 80 Verletzte im April bei einem ähnlichen Anschlag in Urumqi – der Provinzhauptstadt von Xinjiang. Im Mai dann 43 Tote bei einem Anschlag auf einem Markt in Urumqi. Das sind Opferzahlen, die die Chinesen sonst nur aus dem Nahen Osten kennen. Selbstmordanschläge auf Zivilisten, das ist für China, das sich die letzten 35 Jahre vor allem um Wirtschaftswachstum gekümmert hat, ein neues Phänomen. Peking reagiert zunächst wie immer auf Protest und Unruhe – mit harten Maßnahmen. Außenamtssprecher Hong Lei:
"Wir werden mit Hochdruck gegen den Terrorismus vorgehen und die Stabilität unter allen Umständen wahren. Die Regierung kann die Flamme des Terrorismus löschen."
Die Ursachen der Gewalt sehen chinesische Experten vor allem im Ausland. Die "drei Übel", wie es heißt, Terrorismus, Extremismus und Separatismus, hätten auch China erreicht, sagen sie. Religiöse Fanatiker würden junge Uiguren zur Gewalt verführen. Zhang Lijuan forscht an der Xinjiang Normal University in Urumqi.
"Gewalttätige Terroristen repräsentieren keine Nation, keine Religion, kein Volk. Sie wollen lediglich das Land spalten. Dieser religiöse Extremismus schadet der ganzen Welt, sei es China, den USA oder anderen Ländern."
Doch ganz so einfach ist es nicht. Der Hinweis auf den globalen Extremismus allein reicht kaum aus um die Eskalation der Gewalt in Nordwestchina zu erklären. Um zu verstehen wie Chinas Politik von der anderen Seite aussieht, muss man von Peking rund dreitausend Kilometer Richtung Westen fliegen, ans äußerte Ende des Riesenreiches. In die Oasenstadt Kashgar – gelegen zwischen der riesigen Taklamakan-Wüste und den Pamir-Gebirgszügen, die China von Kirgistan, Tadschikistan, Pakistan und Afghanistan trennen.
Langer Arm Pekings spürbar
Vor den Toren Kashgars, der alten Handelsstadt an der historischen Seidenstraße, findet einmal die Woche ein großer Markt statt. Die Bauern aus der Umgebung kommen mit Traktoren und Eselskarren und treiben ihre Schafe und Kühe auf den Marktplatz.
Die alten Männer tragen lange Bärte und Doppas, bestickte traditionelle Kappen, die Frauen Kopftücher und bunte, hochgeschlossene Kleider. Gleich neben dem Viehmarkt werden in eisernen Bottichen Rinderköpfe ausgekocht und an dampfenden Kesseln handgezogene Nudeln angeboten. Nirgendwo ist China so wenig chinesisch wie hier. Die Uiguren sehen nicht nur anders aus als die Han-Chinesen, sie sprechen auch eine andere Sprache, die mit Mandarin nichts zu tun hat und arabische Schriftzeichen benutzt.
Doch der lange Arm Pekings ist in Kashgar überall zu spüren: Auf dem Weg zum Viehmarkt mussten alle Fahrzeuge – auch die Eselskarren - einen Checkpoint passieren. Auf dem Markt, wo noch vor wenigen Jahren offen diskutiert wurde, treffen neugierige Fragen neuerdings auf misstrauisches Schweigen. Trotzdem lädt einer der Bauern in sein Haus ein - zum Tee.
Ahmet wohnt mit seiner Frau, seiner zweijährigen Tochter, mit Mutter und Bruder gleich neben dem Markt. Der 23-Jährige, der seinen echten Namen aus Angst vor Repressionen nicht nennen will, baut auf einem kleinen Stück Land Mais und Weizen an. Das Leben sei hart, sagt er. Das Jahreseinkommen der Familie beträgt umgerechnet 600 Euro. Aber es ist nicht die Armut, die ihn bedrückt, sondern die Ungleichbehandlung der ethnischen Gruppen in Xinjiang. Als Uigure, der kein Chinesisch spricht, sei er ständiger Diskriminierung ausgesetzt, sagt Ahmed verbittert.
"Wir können nichts anderes tun außer die Erniedrigungen schweigend herunterschlucken und tun, was sie sagen."
Macht der Sicherheitsbehörden wächst
Sie, das sind die örtlichen Behörden. Denn seit Peking dem Terrorismus den Kampf angesagt hat, spüren Ahmet und seine Freunde die Macht der Sicherheitsbehörden noch mehr als früher. Sobald mehr als zwei oder drei junge Männer zusammen auftreten, gelten sie als verdächtig:
"Sobald wir die Brücke überqueren und in die Stadt gehen, werden wir von der Polizei kontrolliert. Unsere Ausweise werden überprüft. Daher sind wir meist nur zu zweit unterwegs und treffen die anderen Freunde dann später."
Sein Handy benutzt Ahmet schon länger nicht mehr. Er war es leid, auch das Telefon ständig vorzeigen zu müssen. Die Polizei sucht auf den Handys der Uiguren nach extremistischen Videos oder Nachrichten religiöser Fanatiker. Wer verdächtiges Material besitzt oder weiterleitet, steht sofort unter Terrorismusverdacht und bekommt Schwierigkeiten. Aber was Ahmed am meisten aufregt, ist das Verschleierungsverbot für Frauen. Während er erzählt, spielt seine zweijährige Tochter zu seinen Füßen.
"Neulich hat meine Frau meine Mutter zum Arzt ins Krankenhaus gebracht. Sie musste ihren Ausweis vorzeigen und wurde verwarnt, nicht noch einmal ihr Gesicht zu bedecken. Das nächste Mal müsse sie mit einer Strafe rechnen, hieß es. Seitdem verlässt sie kaum noch das Haus."
Klagen wie von Ahmed sind überall in Kashgar zu hören. Auf dem Basar, wo Teppiche, uigurische Musikinstrumente, getrocknete Früchte und frisches Obst angeboten werden, arbeitet Melahemet. Auch er wählt ein Pseudonym, will seinen echten Namen nicht nennen. Er ist 19 Jahre und hilft seinem Onkel im Geschäft. Sie verkaufen Seidenschals und bunte Decken. Die Geschäfte laufen schlecht, denn wegen der Gewalt bleiben die Touristen weg. Auch ihn nerven die vielen Kontrollen.
"Wir müssen ständig unsere Ausweise und unsere Handys vorzeigen. Das ist unfair. Die Han-Chinesen werden nicht kontrolliert. Nur wir Uiguren werden ständig über-prüft, nur wir stehen unter Beobachtung. Wir jungen Leute denken, wir haben keine Freiheiten mehr. Wir alle denken so.
Uiguren fühlen sich von Han-Chinesen an die Wand gedrängt
Xinjiang ist schon lange Chinas Pulverfass. Die junge kommunistische Volksrepublik hatte sich das riesige Wüstengebiet nach 1949 einverleibt und regiert seitdem mit harter Hand sowie mit Zwangs-Sinisierung – also der systematischen Ansiedlung von Han-Chinesen - und wirtschaftlichen Investitionen. Doch diese Politik hat die Region nicht befrieden können. Viele der zehn Millionen Uiguren fühlen sich in ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identität an den Rand gedrängt. Durch die Ansiedlung der Han-Chinesen sind sie in ihrer eigenen Heimat zur Minderheit geworden. Mit den Investitionen aus dem Osten würde ihre rohstoffreiche Region ausgebeutet, sagen sie. Die Früchte des Wohlstands gingen an ihnen vorbei. Auf Protest und Kritik antwortet Peking seit Jahren mit den gleichen Mitteln: noch mehr Investitionen und noch mehr Repression. Geholfen hat es bislang nicht. Im Gegenteil: Die Spannungen sind in den letzten Jahren gewachsen.
Auch hier: 1200 Kilometer von Kashgar entfernt in Urumqi, der Provinzhauptstadt. Seit den Anschlägen vom April und Mai wurden die Sicherheitsmaßnahmen massiv verstärkt. Am Bahnhof patrouillieren schwer bewaffnete paramilitärische Einheiten. Gepanzerte Fahrzeuge fahren durch die Straßen. Dabei will Urumqi eigentlich zeigen, dass es eine moderne Millionenstadt ist.
Neue Hochhausfassaden dominieren die Innenstadt. Die uigurischen Viertel werden modernisiert. Urumqi will zum neuen Handelszentrum an der neuen – und alten – Seidenstraße Richtung Zentralasien und Europa werden. Vereinzelt trauen sich auch ausländische Unternehmen in die Stadt. Volkwagen hat letztes Jahr ein kleines Werk eröffnet. Doch nicht erst seit den jüngsten Anschlägen vergiften die ethnischen Spannungen das Klima. Vor fünf Jahren, am 5. Juli 2009, kamen bei schweren Unruhen rund 200 Menschen ums Leben. Peking zeigte auch damals mit dem Finger auf mutmaßliche Drahtzieher im Ausland – ohne jemals Beweise vorzulegen. Wirklich erholt hat sich die Stadt von der Gewaltorgie nie:
"Ihr dürft das nicht schreiben, aber wir nennen sie ein minderwertiges Volk. Sie sind vom Esel getreten."
Diskussion findet nicht statt
Die Vorurteile und Ressentiments haben seit den Ausschreitungen von 2009 noch zugenommen, seit die ethnischen Gruppen noch mehr als früher unter sich bleiben. Und eine Diskussion über die Ursachen der Spannungen oder über die Politik Pekings findet noch weniger statt als früher. Kritik an Peking wird nicht geduldet, wie auch dieser Mann erfahren musste.
"Viele Probleme sind nicht über Nacht aufgetaucht, sondern haben sich im Verlauf der Geschichte aufgestaut. Vieles hängt mit rechtlichen Fragen zusammen – mit dem Recht auf Sprache, Religionsfreiheit, mit massiven Menschenrechtsprobleme in Xinjiang, mit der hohen Arbeitslosenrate unter den Uiguren, mit Armut, Ungleichheit, umfassender Diskriminierung."
Dies ist die Stimme des uigurischen Wirtschaftswissenschaftlers Ilham Tohti. Der Professor an der Minderheiten-Universität Peking war einer der ganz wenigen, die es wagten, Chinas Politik in Xingjiang offen zu kritisieren. Er war kein Radikaler, eher ein moderater Kritiker der chinesischen Führung. In seiner Pekinger Wohnung empfing der freundliche, zurückhaltende Mann ausländische Journalisten zum Interview – und bedankte sich jedes Mal für das Interesse an seiner Heimat. Doch im Januar wurde er aus seiner Wohnung verschleppt und sitzt jetzt im Gefängnis in Urumqi. Die Anklage lautet auf Separatismus – ihm droht eine lange Haftstrafe; seinem Anwalt sind die Hände gebunden. Erst sechs Monate nach der Verhaftung durfte Li Fangping seinen Mandanten kurz sehen.
"Wir können deutlich sehen wie sie versuchen bei diesem Fall uns Rechtsanwälte auszuschließen – und wir können nichts machen."
Auch internationaler Protest gegen Tothis Verhaftung hat nicht geholfen. China verwahrt sich gegen die als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfundene Kritik. Und für die Uiguren, die anders als die Tibeter im Ausland kaum Fürsprecher haben, gibt es jetzt noch weniger Möglichkeiten gehört zu werden.
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