Wut, Anklage, Verzweiflung

07.06.2012
Vor allem die skandinavische Literaturwelt ist des Lobes voll über das Mammutprojekt des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgard, das in sechs Bänden, auf mehr als 3000 Seiten, eine autobiographische Spurensuche betreibt. Man erhob den Autor schon in den Rang eines Henrik Ibsen und Knut Hamsun.
Von Fiktionen hält Knausgard nicht viel, weil angeblich das Leben durch TV-, Internet- und Facebook-Bilder umstellt ist und so eine trügerische Echtheit vorgaukelt, die allein durch die Literatur und ihr Potential, unverwechselbare, authentische Stimmen zu Gehör zu bringen, wiederzugewinnen wäre. Ein anspruchsvolles Programm, dem der Autor durch seinen Lebensbericht nahezukommen sucht.

Nach "Sterben", in dem es um seine Kindheit und Jugend und den Tod des Vaters geht, erschien nun der zweite Band auf Deutsch. "Lieben" handelt vom Alltag eines Schriftstellers, der in der Beziehung zu seiner Frau und drei kleinen Kindern aufgerieben wird, vom Auf und Ab eines Familienvaters, der zwischen Haushalt und einem neuen Roman versucht, den Kopf oben zu behalten.

Er erzählt vom Putzen, Wickeln und der Einsamkeit, die ihn im Einerlei der tagtäglichen Fron anfällt, vom Hadern mit der neuen Männerrolle, vom stets wiederkehrenden Streit mit der Liebsten und dem längst zurückliegenden Zauber der ersten großen Gefühle. Das Buch setzt da ein, wo alle Liebe längst im Kampf mit dem Alltag untergegangen scheint und gleichwohl immer wieder neu zurückerobert wird, die Liebe zu den ihm nächsten Menschen genauso wie die zum Schreiben.

Detailversessen reiht Knausgard Episode an Episode. Ob es um Familienfeste geht oder um Gespräche mit Schriftstellerfreunden über den Literaturbetrieb, Tolstoi und Ernst Jünger, um die enervierende Suche nach einem Restaurant mit drei kreischenden Kleinkindern – der Autor erspart uns nichts, um die Allgegenwärtigkeit einer Existenzform zu präsentieren, der die großen Sinnfragen abhandengekommen scheinen. Mit welch verzweifelter Wut er dagegen anschreibt, mit welcher Radikalität, die auch vor Peinlichkeiten nicht haltmacht, ist eine Meisterleistung.

Doch die erzählerische Aggressivität, der man sich auch über längere Strecken hinweg nicht entziehen mag, täuscht freilich über einen Mangel an Dramaturgie nicht hinweg. Auch Humor und Selbstironie sucht man vergebens. Offenbar ist das Fehlen von Distanz der Preis für Knausgards Ideal von rückhaltloser Selbstentblößung, von Authentizität. Anders noch im ersten Band, in dem ein gottähnlicher Vater den Sohn zum Schlagabtausch herausforderte, ein Vater, der alles weiß, alles sieht, und so zum Auslöser für Angst und Selbstbehauptung wird.

"Lieben" ist schonungsloser, "Lieben" geht an die Wurzeln des Ichs und zeigt es eins-zu-eins, gewissermaßen in Großaufnahme. So respektabel Knausgards poetologisches Ziel auch sein mag, das reine Leben ohne literarische Finessen darzustellen, Kunst wird es erst in der Übersetzung in Literatur, wenn es Form und Gestalt annimmt. Womöglich sind Wut und Anklage nicht die probatesten Impulse, um einen Roman zu schreiben.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Karl Ove Knausgard: Lieben
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, München 2012
764 Seiten, 24,99 Euro

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