Wundersame Abenteuer

07.01.2010
Wer sich mit Uwe Tellkamp auf die "Reise zur blauen Stadt" begibt, wird sein blaues Wunder erleben. Dieses lyrische Logbuch, aus dem man auch erfährt, dass neben Böhmen nun auch Dresden am Meer liegt, versteht sich als eine Einübung in die Welt des Wunderbaren.
Tellkamp erweist sich in diesem Reiseepos als Ingenieur, der es versteht, eine Brücke aus der Welt des Realen in die des Fantastischen zu schlagen. Auf ihr wandelt der Autor als Nachfahre des Baron von Münchhausen, der die blaue Blume der Romantik im Knopfloch trägt, und erzählt die wundersamsten Reiseabenteuer. Sie handeln vom Kapitän eines Schiffes, das die Segel der Fantasie gesetzt hat. Tellkamp ist nicht auf Zephyr, den Gott der Winde angewiesen.

Ihm genügt Imagination, um die Weltmeere befahren zu können und in Dresden, Venedig, Prag und Wien vor Anker zu gehen. Bei den Besuchen dieser Metropolen wird man allerdings nicht damit konfrontiert, was sich in jedem Reiseführer nachlesen lässt. Überhaupt ist in diesem Buch das Wirkliche eher Staffage.

Sehr viel mehr interessiert sich der Abenteurer dafür, was sich in den unendlichen Weiten der Fantasielandschaften entdecken lässt. Tellkamp erweist sich in diesem Buch als Spezialist für Reisen ins Blaue. Die nehmen ihren Anfang, wenn im Zimmer das Licht schrumpft und die "Finsternis von ihren Schätzen" zeigt.

In 33 Porträts stellt Tellkamp seine mitreisenden Passagiere vor. Mit an Bord sind u. a. Admiral von Krusenstern, Rätin Wrangel, Dr. Larrios und Dagobert Duck. Die Liste der Berufe, denen seine Reisegefährten nachgehen, reicht vom Philosophen über den Antiquar bis hin zum Anatom. Auch ein Coiffeur ist dabei, ebenso wie eine Versicherungsmaklerin und eine Arbeiterin aus einer Fischfabrik. Die verschiedensten Personen, die die Lebendigkeit der blauen Stadt garantieren, sind vertreten.

Ihre Lebensgeschichten werden erzählt, wobei diese seltsamen Gestalten Einblick hinter die Fassaden gewähren. Am Schluss des Personenregisters findet sich in Kursivdruck der Satz: Hinter die Fassaden wird man selten geladen. In jene Räume aber hat sich Tellkamp aufgemacht.

Zusammen mit seinen Protagonisten bereist er die geheimen Innenwelten und lässt sich erzählen, was sie erlebt haben. Das ist "Seemannsgarn", aber dieses "meerblaue" Seemannsgarn bereitet Vergnügen beim Lesen, weil es in jene geheimen Bereiche des Innen führt, die hinter den wohl gehüteten Fassaden einer korrekt ausgestellten Fassade liegen.

Uwe Tellkamp hat in seinem erfolgreichen Roman "Der Turm" sehr viel Wert darauf gelegt, keine der Realien zu vergessen, die zum Alltag der DDR gehörten. Jede Kleinigkeit war ihm wichtig, um sie im Erzählkosmos der in Dresden angesiedelten Geschichte aufzuheben.

In "Die Reise zur blauen Stadt" lässt der Autor nun der Fantasie, die er im "Turm" an die Zügel legen musste, freien Lauf. Auf dem Weg, den sie sich ins Blaue bahnt, ist ihr der Autor ganz offensichtlich mit großer Lust gefolgt. Man spürt sie noch beim Lesen dieses wunderbar unterhaltsamen Insel-Buches.

Besprochen von Michael Opitz

Uwe Tellkamp: Reise zur blauen Stadt
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009, 110 Seiten, 12,80 Euro