Wüstenschiffe versenken

Von Andreas Stummer · 03.08.2011
Vom Lasttier der Pioniere zur Landplage: In Zentralaustralien gibt es rund eine Million Kamele - und es werden immer mehr. Sie zertrampeln Zäune und fressen Kuhweiden kahl. Jäger sollen jetzt Hunderttausende der Tiere abschießen.
Docker River, Zentralaustralien, gut 500 Kilometer westlich des Ayers Rock – da, wo sich Dingo und Känguru im Outback gute Nacht sagen. 350 Menschen, überwiegend Aborigines, leben in der Siedlung am Rand der Simpsonwüste. In heruntergekommenen Häusern mit staubverkrusteten Fensterscheiben und von der Hitze verbogenen Wellblechdächern. Niemand ist auf der Straße. Der Wüstenwind ist so heiß, als würde man sich mit einem Fön direkt ins Gesicht blasen. Docker River liegt am Fuß eines nackten Felsrückens, umgeben von verdorrtem Buschland – ein gottverlassener Ort. Wären da nicht Tausende wilde Kamele, die immer wieder das Dorf terrorisieren.

"Die Kamele versuchten an Wasseranschlüsse zu kommen, sie trampelten Rohre nieder und warfen Hydranten um. Sie tun alles, um Wasser zu finden. Wir werden wohl einen Schutzzaun um den ganzen Ort herum bauen müssen, damit die Kamele draußen bleiben."

Bürgermeister Michael Gravener weiß nicht mehr ein noch aus. Wenn es über Wochen und Monate nicht regnet, dann sitzen die Kamele auf dem Trockenen – und Docker River ist im Belagerungszustand. Tausende, durstige Tiere werfen Zäune und Brunnen um und reißen Klimaanlagen von Häuserwänden, nur um an ein paar Tropfen Kondenswasser zu kommen. Die Bewohner von Docker River trauen sich nicht mehr vor die Tür, sie sind Gefangene in ihren eigenen Häusern.

"Es waren so viele Kamele in meinem Garten, dass ich Angst hatte sie würden die Tür eintreten und in mein Haus kommen."

"Es gibt einfach zu viele wilde Kamele hier in der Gegend. Wir müssen einen Weg finden die Tiere von uns fernzuhalten."

Alle 14 Tage kreist ein Helikopter über Docker River, um die Kamele zu vertreiben. Hinaus in die Wüste. Kommen sie wieder zurück, dann sind das nächste Mal Jäger an Bord, die Hunderte Tiere aus der Luft abschießen. Tierschützer protestieren, zeigen mit dem Finger auf einen vollbärtigen Mann namens Phil Gee und schreien: "Verräter". Gee bringt seit 30 Jahren anderen den Umgang mit Kamelen bei – trotzdem rät er der Regierung, noch viel mehr Tiere zu töten. Nicht einmal Phil Gee sieht - kurzfristig - eine andere Lösung.

"Wenn die Behörden nicht gezielt etwas gegen die wilden Kamele unternehmen, dann werden sie künftig die alles beherrschende Tierart in ganz Zentralaustralien sein. In etwa 20 Jahren könnte es hier vier bis fünf Millionen Kamele geben - und das ist unhaltbar."

Kamele sind keine einheimische Tierart in Australien, sie wurden im Jahr 1840 als Lasttiere eingeführt. Ein paar Dutzend Tiere aus Indien und Pakistan. Auf ihrem Rücken wurden die Wüstengebiete des riesigen Kontinents erschlossen - Kamele waren Australiens vierbeinigen Pioniere, Kamelkarawanen Australiens Güterzüge - das einzige Transport- und Verkehrsmittel ins Landesinnere. Über 50 Jahre lang. Bis sie vom Fortschritt eingeholt wurden.

Mit Volldampf in die Vergangenheit. Jeden Sonntag rollt an der Zugstation in Alice Springs schnaufend eine antike Lokomotive aus dem Schuppen. Was heute ein Touristenzeitvertreib ist, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Revolution. Die Eisenbahn und später Lastwagen machten die Kamele arbeitslos – und überflüssig. Niemand wusste etwas mit ihnen anzufangen. Im Jahr 1920 beschloss die australische Regierung die Tiere sich selbst zu überlassen. Die Kamele vermehrten sich wie die Karnickel.

Jetzt sind sie das Problem von Glenn Edwards. Der 45-jährige Ökologe arbeitet beim Zentrum für Wüstenforschung in Alice Springs, einer regierungsfinanzierten Gruppe, die beobachtet, welchen Flurschaden die wilden Kamele in Zentralaustralien anrichten. "Ich bin unterbezahlt und ein wenig überfordert", gesteht Edwards und streicht eine auf seinem Schreibtisch ausgebreitete Landkarte glatt. Denn Australiens Kamele sind die größte, freilebende Herde der Welt.

"Wir schätzen, dass es gut eine Million Kamele in Zentralaustralien gibt und es werden immer mehr. In neun Jahren werden es doppelt so viele sein. Wenn wir das Problem der Kamele nicht bald in den Griff kriegen, dann wird es nur noch größer."

Unterwegs an der Kamelfront, in Curtain Springs, einer riesigen Farm auf halbem Weg zwischen Ayers Rock und Alice Springs. Ein verbeulter Pickup quält sich von Schlagloch zu Schlagloch. Die Severins spielen Tourführer. Farmer Ashley mit einem suppenschüsselgroßen Hut auf dem Kopf, Frau Lindy mit einer geladenen Flinte auf dem Schoß. Auf einer Fläche fast doppelt so groß wie das Saarland halten die Severins 8000 Stück Vieh. Die Rinder aber sind nicht alleine auf ihrem Land. Neben der holperigen Schotterstraße liegen immer wieder tote Kamele. Verrottende Kadaver, von der Sonne ausgebleichte Knochen. Wenn die Severins nach ihren Rindern sehen, dann haben sie immer ein Gewehr und zwei Päckchen Munition mit dabei.

"Vor 20 Jahren haben wir vielleicht das eine oder andere Kamel auf unserem Land abgeschossen - heute sind es jährlich weit mehr als 1000. Unsere Farm wird überlaufen von Kamelen. Wenn mir eines vor die Flinte kommt, ist es tot. Denn sie fressen, was eigentlich für unser Vieh gedacht ist. Das ist ein großes Problem für uns."

Das trockene Buschgras in Curtain Springs täuscht. Zehn, vielleicht 15 Meter unter der Erde ist Wasser, das für die Rinderherde nach oben gepumpt und in einem Damm aufgefangen wird. Die etwa schwimmbecken-große Tränke ist für wilde Kamele wie ein Magnet. Um die durstigen Tiere vom Wasser fernzuhalten, musste Ashleys Frau Lindy die Tränke mit einem Spezialzaun in eine Festung verwandeln – in das Fort Knox von Curtain Springs.

"Dieses Stahlkabel hier ist sechs Millimeter dick und hält eine Belastung von drei Tonnen aus", sagt Lindy, "aber das ist nötig, weil die Kamele so stark sind." Die übrigen Zäune auf Curtain Springs sind nur aus einfachem Draht – nicht robust genug, um die Kamele aufzuhalten. Die Tiere trampeln einfach darüber hinweg, reißen dabei die Zaunpfosten aus dem Boden und ziehen den Drahtverhau oft Hunderte Meter hinter sich her. Im letzten Jahr musste Lindy Severin auf ihrer Farm 100.000 Euro allein für Zaun-Reparaturen ausgeben.

"Die Kamele beschäftigen unseren Vorarbeiter jeden Tag. Entweder muss er sie vertreiben oder abschießen oder wieder in Ordnung bringen, was sie zerstört haben. Ich habe Männer angestellt, die nichts anderes machen als die Zäune zu reparieren. Letztes Jahr mussten wir 140 Kilometer Zaun ersetzen und wir sind immer noch nicht damit fertig."

Niedergetretene Zäune, zertrampelte Pipelines oder kahl gefressene Weiden: Jeder Schadensbericht landet auf dem Schreibtisch von Jan Ferguson beim Zentrum für Wüstenforschung in Alice Springs. Die frühere Mathematiklehrerin ist den Umgang mit Zahlen gewöhnt, aber es kamen so viele Beschwerden über Kamele, dass sie eine Sekretärin brauchte. Fergusons winziges Büro liegt direkt neben dem von Glenn Edwards. Aber, wie ihr Chef, hat sie nicht einmal Platz, um ein Poster aufzuhängen – überall sind Karteikästen und Aktenordner im Weg: Zwischenfälle mit Kamelen nach Alphabet sortiert.

"Wir können das Kamelproblem ignorieren – auf eigene Gefahr. Kamele sind enorm große Tiere, sie fressen ganze Bäume kahl. Fast wie Giraffen. Wir schätzen den Schaden, den wilde Kamele an Gebäuden und Einrichtungen verursachen auf jährlich etwa neun Millionen Euro."

Wilde Kamele sind ein wandelndes Katastrophengebiet. Sie wiegen bis zu einer Tonne und haben Füße so groß wie Kuchenteller. Ein Kamel kommt zwei Wochen ohne Wasser aus, bis zu einen Monat ohne Nahrung. Doch der australische Busch ist wie ein Supermarkt mit Selbstbedienung. Da, wo eine Kamelherde durchzieht, sind Buschgräser und Straucharten so gut wie verschwunden.

Sie haben keine natürlichen Feinde, sie sind Allesfresser und werden bis zu 50 Jahre alt. "Kamele sind die Könige des Outbacks. Ihr Hoheitsgebiet erstreckt sich über fast 3 1/2 Millionen Quadratkilometer – eine Fläche zehn Mal so groß wie Deutschland, die sie buchstäblich, mit Füßen treten. Vom Lasttier der Pioniere zur Landplage. Ahnungslose Touristen sehen sich im Outback immer öfter Horden aggressiver Kamele gegenüber. Die Behörden überlegen Warnschilder aufzustellen. Jane Waters aber hält das alles für dummes Zeug. Für sie sind Kamele die wundervollsten Tiere, die sie je gesehen hat.

"Ich war schon immer vernarrt in Kamele. Sie haben Charakter, jedes Tier ist anders – genau wie wir Menschen. Jedes Kamel hat seine ganz eigene Persönlichkeit. Wir bringen ihnen bei auf Kommandos zu hören und sie reagieren darauf. Für mich sind Kamele wie riesengroße Hunde."

Jane Waters ist die Kamelflüsterin Zentralaustraliens. Eine kleingewachsene, energische Person mit blondem Pferdeschwanz, die es für die natürlichste Sache der Welt hält, Kamelen Gutenachtgeschichten zu erzählen. Janes Zuhause ist "Stuarts Well", eine kleine Farm westlich von Alice Springs - ein paar Ställe, Koppeln, Maschinenschuppen und ein Blockhaus direkt neben der Landstraße. Jane lebt dort mit Noel, ihrem Mann - und 30 Kamelen. Die beiden nehmen Jungtiere auf, die von ihrer Herde getrennt wurden - und sie züchten selbst. Von klein auf werden die Kamele abgerichtet. Wenn sie es gewohnt sind auf Befehle zu reagieren, dann gehen sie auf Safari. Mit Touristen auf dem Rücken.

Morgengrauen in "Stuarts Well". Eine Reisegruppe macht sich fertig für den Ritt ihres Lebens. Jane - wie immer in ausgewaschenen Jeans, Holzfällerhemd und Stiefeln – kümmert sich um die fünf Kamele, Vorarbeiterin Leanne um die Touristen. Einer nach dem anderen klettert unbeholfen, eine Hand fest an einem Sicherheitsbügel, in den Sattel.

Langsam, wie eine auf- und abschwingende Kinderwippe, richten sich die beladenen Kamele auf. Mit Noel an der Spitze zieht die Karawane wie in Zeitlupe los. Jane winkt noch von der Koppel, dann geht sie die Jungtiere füttern. Sie kann beim besten Willen nicht verstehen, warum Kamele einen so schlechten Ruf haben. "Sie haben auch ihren Platz im Outback", meint Jane. Schließlich eröffneten sie Australien-Touristen, buchstäblich, eine andere Perspektive.

"Man sitzt sehr hoch auf einem Kamel, von dort oben sieht man einfach viel mehr. Die Tiere machen kaum einen Laut, wenn sie unterwegs sind – auf einem Kamel wird man eins mit der Natur. Sie sind einfach zu reiten und gehen in einem beständigen Tempo. Kamele bringt in der Wüste nichts aus der Ruhe. Es gibt keinen entspannenderen Weg, um das Outback kennenzulernen."

Kamelsafaris bringen ein wenig Geld ins Outback, Unternehmer aber wittern Millionen. Sie wollen aus einem Problem eine Industrie machen, aus einer Plage ein Geschäft. Warum nicht Hunderttausende australische Kamele lebend oder zu Fleisch verarbeitet in die ganze Welt ausführen? Der gute Wille ist da, aber es mangelt am nötigen Kleingeld. An Kühllastwagen, da, wo Kamele abgeschossen werden und an speziellen Schlachthöfen. Einige, kleinere Kamelfarmen in Zentralaustralien exportieren bereits ins Ausland – ein paar Tausend Tiere hier, ein paar Tonnen Fleisch da. Von einer Industrie aber kann keine Rede sein. "Kamele als Nutztiere" ist ein Thema, über das in Alice Springs oft gesprochen wird. Vor allem wenn Kamelsteaks auf dem Barbecue brutzeln.

Gary Dann hat auch nichts gegen tote Kamele. Weder auf seinem Teller, noch in seinem Schlachthof. Dann, ein rundlicher Mittvierziger mit Stirnglatze, ist der Manager des "Wamboden"-Fleischwerks, eines turnhallengroßen Fabrikgebäudes am Stadtrand von Alice Springs. Garys Hauptgeschäft sind Schafe und Rinder. Seine Fleischer verarbeiten dort aber auch 20 Kamele die Woche. Gary ist sicher, dass er – bei entsprechender Nachfrage – weit mehr schlachten könnte. Er glaubt: "Mindestens 250 die Woche".

"Wir verarbeiten die Kamele hier zu Gourmet-Fleischspezialitäten für Restaurants, die vor allem von Touristen besucht werden. Unsere Kamelsteaks gehen nach Darwin, nach Süd- und nach Zentralaustralien. Damit decken wir aber nur unsere Kosten. Für uns und Kamelfarmer, die etwas an den Tieren verdienen wollen, ist das eine unglückliche Situation."

Gary Dann hat hohen Besuch. Statt Overall und Gummistiefel, wie sonst im Schlachthof, trägt er Sakko und Krawatte. Die zwei Männer, die er im Gänsemarsch über das Gelände seines Fleischwerks führt, interessieren sich nicht für die Kühlhallen oder den Fuhrpark - sie steuern auf die Koppel zu, in der etwa 20 Kamele faul in der Nachmittagssonne dösen. Garys Gäste kommen von weit her: Aus dem Wüstenstaat Kuwait. Mohammed Al-Subaie und Haled, zwei Araber mit dunklen Schnurrbärten und noch dunkleren Sonnenbrillen, sind die führenden Kameleinkäufer am Persischen Golf. Und sie sind interessiert.

"Die australischen Kamele sind denen in Kuwait sehr ähnlich. Wir sind daran interessiert, australische Kamele nach Kuwait zu exportieren. Denn unsere eigenen Tiere sind sehr teuer. Für ein Kamel muss man oft 100- manchmal 200.000 Dollar bezahlen."

Das Interesse an australischen Kamelen ist da, deshalb soll jetzt in ganz Zentralaustralien Jagd auf die Tiere gemacht werden. Aus der Luft, mit Hilfe von Hubschraubern. Die Regierung in Canberra hat zehn Millionen Euro für den Massenabschuss von 650.000 Kamelen bewilligt – einen Termin, wann damit begonnen werden soll, gibt es aber noch nicht. "Das ist ein Haufen Geld", gesteht Ökologe Glenn Edwards, aber Nichtstun würde Australien auf lange Sicht noch teuerer zu stehen kommen.

"Menschen und Kamele kämen sich – etwa auf den Straßen Zentralaustraliens – immer öfter in die Quere. Immer mehr Kamele würden Zäune niedertrampeln, die Weiden von Schaf- und Rinderzüchtern kahl fressen und ihre Tränken trockenlegen. Dazu kommen die enormen Umweltschäden, das Zerstören wichtiger Kultstätten der Aborigines und von Farmland."

Glaubt man einigen australischen Lokalpolitikern dann sind Kamele Australiens größte Umweltschweine. Jedes der Tiere scheidet im Jahr etwa 45 Kilogramm Methan aus – ein schädliches Treibhausgas. Und weil das in etwa der Menge an Abgasen entspricht, die 300.000 Autos in die Luft blasen, wird gefordert: "Weg mit den Kamelen – zur Not der Umwelt zuliebe". Jan Ferguson, die im Zentrum für Wüstenforschung in Alice Springs den Flurschaden der Kamelherden verwaltet, bekommt seitdem noch mehr Post. Glückwunschkarten und Protestschreiben – für und gegen das Abschießen der Kamele. Am Riffelglas ihrer Bürotür hängt eine sorgfältig ausgeschnittene Schlagzeile der Lokalzeitung. Das Blatt hat der geplanten Treibjagd einen Namen gegeben: "Das große Wüstenschiffe versenken."

"Niemand sieht gerne, dass die Kamele abgeschossen werden. Aber wir haben keine andere Wahl. Entweder rotten wir diese Landplage aus oder wir verlieren die Artenvielfalt unserer Tier- und Pflanzenwelt. All das, woran uns Australiern etwas liegt."

In nur 170 Jahren ist in Australien aus einer Handvoll Kamele eine Million Kamele geworden. Jetzt sollen die freilebenden Herden auf eine überschaubare Zahl reduziert werden. Dabei wären Kamele die idealen Tiere für das nächste Jahrhundert. Klimawandel und steigende Temperaturen - kein Problem. Immer weniger Trinkwasser und Nahrung auch nicht. Kamele sind ein verlässliches Transportmittel und sie produzieren Fleisch und Milch. Trotzdem müssen sie Schafen und Rindern Platz machen. Inzwischen wächst die wilde Kamelherde Zentralaustraliens weiter – jedes Jahr um etwa 100.000 Tiere. Im unendlich weiten Outback. Da, wo sich Dingo, Känguru und längst auch Kamele gute Nacht sagen.
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