Würde, Integrität und Glaubwürdigkeit

Von Matthias Thiel · 18.02.2012
Das Amt an der Spitze des Staates kann nicht ohne weiteren Schaden alle zwei Jahre neu besetzt werden. Für das neue Staatsoberhaupt muss es nun eine breite Mehrheit geben, in der Bundesversammlung wie in der Bevölkerung, meint matthias Thiel.
Auch wenn die Unschuldsvermutung gilt: Das war überfällig. Leider hat Christian Wulff den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt längst verpasst. Hätte er die gleichen Maßstäbe, die er einst wortreich an andere politische Amtsinhaber anlegte, für sich gelten lassen, wäre der jetzt von ihm beklagte Vertrauensverlust nie eingetreten.

Der immense Schaden für das Amt des Staatsoberhauptes aber vor allem für das Ansehen der Politik in Deutschland insgesamt wäre nicht entstanden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an seine oft verspäteten oder unvollständigen Erklärungen zu den vielfältigen Vorwürfen gegen ihn. Wie sagte Wulff doch selbst: Politik verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie nur auf Zeit spielt.

Besonders tragisch ist, dass Christian Wulff seine politische Autorität schon als niedersächsischer Ministerpräsident verloren hatte. In seiner Amtszeit im Berliner Schloss Bellevue ist das dann fast allen Menschen im Land aufgefallen - nur ihm selbst eben viel zu spät. Er hätte doch auch schon zu Beginn der Affäre wissen müssen, welche Dimension diese erreichen könnte. Stichworte: "überschrittener Rubikon" und Drohanruf beim "Bild"-Chefredakteur.

Doch noch immer keinerlei Unrechtsbewusstsein. Es kann doch nicht überraschend für den zurückgetretenen Präsidenten gekommen sein, dass die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht der Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung hegen könnte. Grund: angebliche Barzahlung für privaten Urlaub an einen befreundeten Unternehmer, der zuvor von Entscheidungen seiner Landesregierung profitiert haben soll.

Erst durch die Absicht, strafrechtliche Ermittlungen einleiten zu wollen, hat es Wulff nun auch selbst gemerkt, seinem Amt nicht mehr gerecht werden zu können. Ebenso überhaupt keine Einsicht, dass es eben nicht nur um juristische Unschuld geht. Ich nenne das Realitätsverlust.

Wulff, ein Opfer - gejagt und verletzt gerade von den Medien. So sieht er sich noch immer. Selbst wenn es so gewesen sein sollte: Wer hätte denn den Anlass dafür geliefert?

Immer mehr Menschen glauben inzwischen, dass Wulff, so wie viele andere Politiker, mitnimmt, was man kriegen kann. Die Kategorie "so was tut man nicht" als Wert an sich wird im Urteil des Bürgers immer weniger den politisch Handelnden in Deutschland zugeschrieben. Jüngste Beteuerungen, immer aufrichtig gewesen zu sein, wirken unglaubwürdig. Der notwendige Vertrauensvorschuss war aufgebraucht.

Und hier muss die Kanzlerin ansetzen. Mit dem Rücktritt ihres zweiten Bundespräsidenten ist sie erheblich unter Druck geraten. Angela Merkel will jetzt schnell handeln und muss es auch. Sie hat schon angedeutet, dass sie gelernt hat. Training war gestern, jetzt gilt es. Das Amt an der Spitze des Staates kann nicht ohne weiteren Schaden alle zwei Jahre neu besetzt werden. Merkel weiß jetzt, wie man eine geeignete Persönlichkeit für das Schloss Bellevue findet. Parteitaktische Überlegungen stehen nicht mehr im Vordergrund.

Noch an diesem Wochenende müssen sich Union und Liberale auf der einen sowie SPD und Grüne auf der anderen Seite zusammensetzen und parteiübergreifend eine Lösung finden. Für das neue Staatsoberhaupt muss es eine breite Mehrheit geben, in der Bundesversammlung wie in der Bevölkerung.

Nein, ich will keinen Heiligen im Amt. Aber einen oder eine, für den oder die Würde, Integrität und Glaubwürdigkeit gelten, das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.