Wucht und Pathos

02.07.2012
Das Spätwerk Adalbert Stifters, das dieser Band kompakt präsentiert, gehört zu rätselhaftesten literarischen Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts. Der komödiantische Verzweiflungston des Ich-Erzählers Friedrich Roderer liest sich wie eine gekonnte Parodie des Thomas Bernhard-Stils - nur dass er hundert Jahre früher geschrieben wurde.
Von den Zeitgenossen, deren Lesegewohnheiten sich zunehmend am Realismus ausrichteten, wurde Stifters Spätwerk verschmäht - zu artifiziell, lebensblass und altersabstrakt erschienen Erzählungen wie "Nachkommenschaften", "Der Kuss von Sentze" und "Der fromme Spruch".

Wiederentdeckt wurde der späte Stifter von der jüngeren Literaturwissenschaft. Der zeremonielle Leerlauf der Sprache, die formelhaften Wendungen und oft geradezu tautologischen Beschreibungen unspektakulärer Vorgänge faszinierten Leser, denen die realistische Abbildfunktion von Literatur im Zeichen von Moderne und Postmoderne längst suspekt geworden war.

Wer die Novelle "Nachkommenschaften" beginnt, reibt sich tatsächlich die Augen. Der komödiantische Verzweiflungston, mit dem hier der Ich-Erzähler Friedrich Roderer, seines Zeichens Landschaftsmaler, die Landschaftsmalerei verflucht und die zahllosen Landschaftsmaler beschreibt, die durch die Landschaften ziehen, in Almhütten übernachten, sich vor Wasserfällen und Ritterburgruinen niederlassen, um Landschaftsbilder zu malen - dieser Verzweiflungston ("Es ist entsetzlich ... ") liest sich dies wie eine gekonnte Parodie des Thomas Bernhard-Stils, nur dass er hundert Jahre früher geschrieben wurde.

Friedrich Roderer bemüht sich, auf einer gigantischen Leinwand die Moorlandschaft festzuhalten, die sein Verwandter, der Großgrundbesitzer und Unternehmer Peter Roderer, trockenzulegen bemüht ist. Am Ende erweist sich Friedrich als echter Roderer, indem er sich abrupt von dem abwendet, was er bis dahin mit fanatischer Leidenschaft betrieben hat. Er vernichtet all seine Gemälde und heiratet die Tochter Peter Roderers. Familienkult und Verwandtenehe gehören in Stifters späten Erzählungen zusammen.

Unnatur, Gezwungenheit, die Dialoge seien alle "wie auf Schrauben gestellt" - mit solchen Verdikten reagierte Stifters Verleger auf die Erzählung "Der fromme Spruch" und lehnte den Druck ab. Tatsächlich dürfte es kein anderes Werk geben, in dem die Rücknahme explizierender Beschreibung zugunsten karger, formelhafter Benennung so weit getrieben wird. Die Reden der Figuren bestehen größtenteils aus zeremoniellen Gruß-Formeln, die bei jeder Gelegenheit ausgetauscht und repliziert werden, mit der Wirkung des leicht Absurden. Handelt es sich um eine sanfte Parodie ur-aristokratischer Lebensformen, jenes befriedeten Wunschlebens, wie es im Roman "Der Nachsommer" breit entfaltet wird? Wie die anderen Spätwerke hat "Der fromme Spruch" eine komödienhafte und ihre Konstruiertheit geradezu ausstellende Handlung: Hochzeit mit Hindernissen. Ansonsten werden in Stifters Welt Rosen gezüchtet oder Moose gesammelt und wissenschaftlich klassifiziert.

Wucht und Pathos, wie sie in biedermeierlicher Abdämpfung die frühen, grandiosen Novellen Stifters kennzeichnen, kehren wieder in seiner letzten Erzählung: "Aus dem bayrischen Walde", die Beschreibung eines ungeheuren, sinnverwirrenden, zweiundsiebzigstündigen Dauer-Schneefalls. Die Erzählung zeigt mit ihrem Einbruch des Erhabenen in den geregelten Alltag, wie sehr die zwanghaft harmonisierten Kunst-Welten Stifters Schutzvorrichtungen gegenüber Bedrohungen, Schrecknissen und Verstörungen sind. Sensiblere Leser spüren diese Unterströmung als eigentümliche Faszinationskraft bei der Stifter-Lektüre.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Adalbert Stifter: Nachkommenschaften
Späte Erzählungen
Herausgegeben von Karl Wagner
Verlag Jung und Jung 2012
367 Seiten, 24 Euro