Woran stirbt Deutschland?

Von Bernd Wagner · 20.05.2005
Als Bundeskanzler Schröder in einer Grundsatzrede zur Familienpolitik Initiativen und Gesetzesentwürfe ankündigte, die Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts zum familienfreundlichsten Land Europas machen sollen, erregte das nur kurzzeitig Interesse. Allein am Zweifel, dass Familienfreundlichkeit durch Verordnungen herzustellen ist und diese Regierung dazu noch Gelegenheit finden wird, kann das nicht liegen.
So oft das Thema der Überalterung unserer Gesellschaft angesprochen wurde, so schnell wurde es immer wieder verdrängt, denn es berührt das wohl wichtigste unserer zahlreichen Tabus, das Sterben. Oder wie anders soll man den Zustand eines Landes bezeichnen, in dem jede Kindergeneration um ein Drittel kleiner ist als die vorausgegangene und die Bevölkerungszahl demzufolge bis zur Mitte des Jahrhunderts von 80 auf voraussichtlich 50 Millionen sinken wird?

Dass in diesem Zusammenhang vor allem die finanziellen Folgen, etwa die Sicherheit der Renten, diskutiert werden, sagt einiges über die Ursachen dieser Entwicklung aus - unsere Fixierung auf materielle Interessen. Sie ist älter als der Geburtenrückgang, aber während früher der Reichtum eines Landes vor allem an der Zahl der Produktivkräfte, also seiner Einwohner, gemessen wurde, ist das durch die jüngsten industriellen und technologischen Revolutionen anders geworden. Seitdem sie immer mehr menschliche Arbeit überflüssig machen, ist die Zeugung von Kindern scheinbar keine ökonomische Notwendigkeit mehr und indem sie die Mittel zu Geburtenkontrolle und künstlicher Befruchtung geliefert haben, legen sie die Entscheidung dafür oder dagegen in unsere Hand. Das Ergebnis ist, dass wir die Gesellschaft von Apparaten und Maschinen der von Menschen vorziehen. Sie sind im Umgang unproblematischer, leichter zu bedienen und, falls man ihrer überdrüssig ist, schnell durch neue Modelle zu ersetzen. Wo soll der Nachwuchs herkommen, wenn die Jugend lieber mit Computern als miteinander spielt?

Den Wandel unserer Einstellung zur Familie illustriert am deutlichsten unser gewandeltes Vaterbild. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist aus dem allmächtigen Ernährer und Beschützer der Familie eine rundum zweifelhafte Figur geworden, verdächtig einer dunklen Vergangenheit, des Kindesmissbrauchs und der Unfähigkeit, sich im Konkurrenzkampf der Zukunft durchzusetzen.

Brauchen wir ihn überhaupt noch, brauchen wir die Familie, ja brauchen wir überhaupt eigene Kinder, wo es auf der Welt doch mehr als genug fremde gibt, die man adoptieren oder mitsamt ihren Eltern per Touristenvisa ins Land holen kann? Die Frage wird nur mit Ja beantworten, wem am Fortbestand eines Gebildes namens Deutschland (oder Holland oder Frankreich oder Italien) nicht nur als eines europäischen Verwaltungsbezirkes, sondern einer kulturellen Einheit liegt. Wem daran liegt, dass dieses sich neu konstituierende Europa weiterhin aus Nationen besteht, die nach einer bekannten Definition nur existieren, so lange sie "werden". Unser Desinteresse an Kindern ist auch ein Desinteresse an der Nation als der historisch gewachsenen Form des Zusammenlebens, die neben der Religion am ehesten einen überindividuellen Sinn stiften kann. Bei aller berechtigter Skepsis ihr gegenüber vergessen wir allzu leicht, wozu die letzten, auf Klassen- oder Rassenzugehörigkeit basierenden Versuche, multinationale Imperien zu bilden, führten, dass die von uns immer wieder beschworenen Werte der Demokratie, der bürgerlichen Rechte und Freiheiten sich im nationalen Kontext entwickelt haben und dass Deutschlands Dilemma in seiner verspäteten und unvollständigen Nationwerdung besteht, die, wie wir an unseren Wiedervereinigungsschwierigkeiten sehen, durchaus noch nicht abgeschlossen ist.

Deutschland und Europa haben schon verschiedene Perioden durchlebt, in denen ihre Bevölkerung geschrumpft ist, durch Seuchen, Kriege oder Auswanderung in die Neue Welt. Der gegenwärtige Geburtenrückgang, der sich innerhalb eines noch nie da gewesenen äußeren Wohlstands vollzieht, erscheint wie das psychische Nachspiel der physischen Zerstörungen des letzten Jahrhunderts. Er ist das grundlegende Problem unserer Epoche, das allein durch Kindergartenplätze und Familiengeld nicht zu lösen sein wird, sondern eines tiefer gehenden Wandels der Gesellschaft bedarf.


Bernd Wagner , Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift 'Mikado'. Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen 'Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11' (1993) sowie die Romane 'Paradies' (1997) und 'Club Oblomow' (1999). Zuletzt erschien 'Wie ich nach Chihuahua kam'.