Wolfgang Sofsky: "Das Prinzip Sicherheit"

Rezensiert von Claus Leggewie · 21.10.2005
Wolfgang Sofsky, der originelle und eigenwillige Soziologe aus Göttingen, zeigt, dass das geistige Europa nicht nur der Venus (und Immanuel Kant) zugeneigt ist, sondern ebenfalls eingefleischte Hobbesianer beherbergt. Dazu brachten ihn seine Themen: Gewalt, Terror und Krieg, seine Lesart der Gesellschaftstheorie und seine ausgeprägte Aversion gegen einen Zeitgeist, der radikale Denk- und Handlungskonsequenzen aus den unabweisbaren Übeln der Gegenwart scheut.
Im jüngsten Essay geht es um Sicherheit, nicht nur für Sofsky ein Grundproblem der Menschengattung. Im Naturzustand wird der Mensch nicht alt, beschrieb Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der Religionskriege, das Bedürfnis nach dem Leviathan. Allein der starke Staat verbürgt Sicherheit, ohne den Kreislauf von Unsicherheit und Angst immer unterbrechen zu können.

Sofsky beginnt mit einer lakonischen Gesamtschau des Syndroms schleichender und plötzlicher Katastrophen von Tschernobyl über den Klimaumschwung bis zum islamistischen Terror, die als Schatten über unserer Gegenwart und der Zukunft unserer Kinder liegen. Er unterscheidet Katastrophe, Gefahr und Risiko und kommt zu dem Schluss, dass mit der Entzauberung der Welt Wagnisse (Risiken) an die Stelle von Widerfahrnissen (Unglücke) getreten sind.

"Immer schon lebten Menschen in einer gefährlichen Welt. Aber erst seitdem sie sich selbst zu den Herren dieser Welt gekrönt haben, müssen sie sich alles Unglück selbst zuschreiben und ihre Angst allein bekämpfen. "

Dabei fallen auch "fortlaufend neue Ängste vor Phantomrisiken" an, "Verzagtheit und Schreckhaftigkeit werden zum Charakter". Gegen diese Kultur der Ängstlichkeit setzt Sofsky (man wird noch sehen warum) ein Lob der Courage, feiert er Nischen des Wagemuts.

"Risikolust ist zutiefst optimistisch. Sie sucht Geschwindigkeit, das Unbekannte und Unheimliche, den Zufall, den Wettstreit. Geistesgegenwart, Ausdauer oder Kampfbereitschaft werden dem Glück den Weg schon weisen. Die Investition erschöpft sich nicht nur in Geld, Zeit oder körperlichem Einsatz. Der Risikofreudige liefert sich selbst dem Schicksal aus. "

Das ist die Rhetorik des Unternehmers, die im zweiten Teil des Buches zu einer Soziologie der postheroischen Wirtschaftsgesellschaft überleitet. Bezogen auf den Buchtitel ist bemerkenswert, wie wir uns binnen weniger Jahrzehnte von Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung" über Hans Jonas’ "Prinzip Verantwortung" nun zum "Prinzip Sicherheit" ernüchtert haben.
Im dritten Teil kommt der Autor zum Punkt:

"Märkte verknüpfen wirtschaftliche Aktivitäten und sorgen für den Unterhalt der Gesellschaft. Staaten überwachen die sozialen Handlungen und sichern die Ordnung der Gesellschaft. "

Freilich: Das damit verbundene Versprechen umfassender Sicherheit war noch nie einzuhalten und ist es in Zeiten globaler Gefahren erst recht nicht. Wie Hobbes mustert Sofsky die unbeherrschten, vielleicht unbeherrschbaren Sicherheitsrisiken der heutigen Weltgesellschaft, die nicht mehr durch das (Kriegs-)Recht eingedämmt und mittlerweile in blankem Terror akut werden. Personifiziert sind sie in Marodeuren, Heckenschützen, Geiselnehmern und neuerdings Selbstmordattentätern, vor denen jede Staatsmacht zu versagen droht, da ihnen an Selbsterhaltung nichts mehr liegt.

"Die Avantgarde des wilden Krieges hat das Kalkül der Sicherheit weit hinter sich gelassen. Sie ist für die Welt so gefährlich, weil sie selbst jede Gefahr verachtet. "

Das amerikanische Taktieren im Irak, das viele Europäer in kalter Gleichgültigkeit, oft auch mit Schadenfreude beobachten, demonstriert das Dilemma: Mit Zurückhaltung ermuntert man den Feind, mit Gegenterror wird man ihm gleich.
So käme Hobbes heute wohl auch zu dem Schluss:

"In seinem aktuellen Zustand ist der Staat kein Hort des Schutzes, sondern eine Quelle der Unsicherheit. Nun ist der Bürger auch in Zeiten des inneren Friedens vor die Aufgabe gestellt, sich selbst in Sicherheit zu bringen. "

Auch dieser apokryphe Satz bleibt zunächst im Raum stehen. In den westlichen Demokratien droht laut Sofsky "der Übergang zum Polizeistaat im Rahmen der Legalität und mit Zustimmung der Mehrheit. "

Es klingt wie ein Verdikt:

"Die Befugnisse der Sicherheitskräfte werden ausgedehnt, Verdächtige werden vorsorglich inhaftiert, Sondertribunale eingerichtet, die Folter erneut eingeführt. Im Namen der Sicherheit werden nach und nach die Freiheiten gestrichen. Nun tritt offen zutage, dass politische Macht zuletzt gedeckt ist durch die Verletzungsmacht, die jeder Untertan am eigenen Leib zu spüren bekommen kann. "

Im letzten, politischen Teil des Buches behandelt Sofsky Zusammenhänge zwischen "Frieden und Sicherheit" und die gängige Alternative"Freiheit oder Sicherheit". Zum ersten Komplex legt er eine ausgeprägte Skepsis gegenüber lieb gewonnenen Axiomen der deutschen und europäischen Politik nach 1945 an den Tag, wonach wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziale Gerechtigkeit Kriege verhindern könne, ebenso misstraut er neokantianischen Utopien einer multilateralen, vornehmlich auf Kommunikation setzenden Weltregierung. In seinen Augen zählt allein die Überlegenheit der Macht, die anderen die Fähigkeit zur Attacke nimmt, im Kalten Krieg gelang das durch ein Gleichgewicht der Destruktivkräfte, heute durch die amerikanische Hegemonie. Doch auch diese wird sich in Sofskys Augen nur behaupten können, wenn sie nicht nach europäischem Vorbild in aller Welt aus blankem Bürgerkriegschaos "Nationen bauen" will, sondern indem sie effiziente Staaten errichtet, die ihre Untertanen zu entmachten in der Lage sind.

Für Sofsky sind Freiheit und Sicherheit keine Alternative, denn "Freiheit bedeutet Abwesenheit von Knechtschaft, von Zwang und Bevormundung, von Angst und Gewalt. "

Ob eine politische Ordnung frei sei, entscheide sich eben nicht am Grad der Gleichheit und Beteiligung ihrer Bürger, sondern "zuerst an der Stärke der Barrieren, die den einzelnen vor den Maßnahmen der Obrigkeit, den Übergriffen der Nachbarn und den Attacken der Feinde schützen. "

Mehrheitsdemokratie und Versicherungsgesellschaft verbürgen keine Freiheit, es kommt letztlich, wie zu Beginn angedeutet, auf den Einzelnen an, und zwar gerade, damit Staatsallmacht und Übergriffe des Sicherheitsapparates abgewendet werden können. Sofsky läuft am Ende also nicht Carl Schmitt und seiner frivolen Feier des Ausnahmezustandes in die Arme.

Deswegen also das Lob der Courage. Wir schützen uns selbst nicht vor dem Terror schützen, indem wir Überwachungskameras aufstellen, die nachweislich nichts bringen, sondern indem wir unsere lähmende Angst überwinden. Hier hätte man Sofsky um mehr Anschaulichkeit gebeten, und ich nenne ein Beispiel, das er nicht mehr aufgreifen konnte: Unter der Parole We are not afraid! zeigten nach den Anschlägen in den Londoner U-Bahnen 40.000 Briten internet-öffentlich Gesicht. So könnte das Motto einer neuen, zeitgemäßen Friedensbewegung lauten, während die alte immer noch den Abzug der Amerikaner von überall postuliert. Das heißt: Nur wenn Staatsbürger ihre Angst verlieren, kann das staatliche Gewaltmonopol greifen und zugleich der staatliche Exzess verhindert werden, der nicht mehr Sicherheit erzielt, aber die Freiheit zerstört - für Sofsky das Szenario der finalen Katastrophe. Auch diese Konsequenz erspart der Autor sich und seinen Lesern am Ende nicht: die reale Möglichkeit, dass der totale Terror in Ermangelung effektiver Prävention und Reaktion auf die eine oder andere Weise obsiegen könnte.

Sofsky hat ein radikales Traktat zur geistigen Situation unserer Zeit verfasst, das ohne eine einzige Anmerkung auskommt, dafür aber ein kommentiertes Literaturverzeichnis bietet. Gerade wer Kantsche Imperative favorisiert und auf das Völkerrecht setzt, sollte dieses Buch zur Hand nehmen.

Wolfgang Sofsky: Das Prinzip Sicherheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2005