Wolfgang Bauer: "Die geraubten Mädchen"

In der Gewalt der Terrorsekte

Von Sieglinde Geisel · 11.06.2016
Der "Zeit"-Reporter Wolfgang Bauer hat für sein Buch acht Frauen befragt, die Geiseln der nigerianischen Terrorsekte Boko Haram waren. Ihre Berichte über Gewalt und Grausamkeiten sprengen jede Vorstellungskraft. Und doch wohnt ihnen Hoffnung inne.
Mit der Entführung von 276 Mädchen aus einer Schule in Chibok trat die islamistische Terrorsekte Boko Haram vor gut zwei Jahren ins öffentliche Bewusstsein. Inzwischen sollen sich Tausende von Frauen in der Gewalt der Terror-Organisation befinden. Eine Welt, die Journalisten nicht zugänglich ist.
Daher hat der "Zeit"-Reporter Wolfgang Bauer in Nigeria mit Entführungsopfern gesprochen, denen die Flucht aus den Sklavenlagern gelungen ist. Acht Frauen berichten von ihrer Gefangenschaft. Männer werden von den Terroristen sofort getötet: Nur ein einziger Mann kommt zu Wort, der bei einem Überfall entkommen konnte.

Entführt, zwangsverheiratet, misshandelt und enthauptet

Man liest in diesem schmalen Buch Dinge, die man sich nicht vorstellen kann. Die 13-jährige Rabi wurde zwangsverheiratet und erzählt von Misshandlungen. Die 25-jährige Agnes, die bereits Mutter von vier Kindern ist und vor drei Monaten das Kind ihres Peinigers geboren hat, musste im Lager zuschauen, wie Frauen andere Frauen enthaupteten.
Batula ist 41 Jahre alt. Sie ist die Mutter von Rabi und hat sieben weitere Kinder, das jüngste wurde im Wald von Sambesi geboren, wo Boko Haram Frauen unter Bäumen gefangen hält. Als die Armee das Lager in Brand geschossen hatte, sah Batula auf der Flucht zwei Jungen mit verbrannter Haut, deren Mutter sie zurückließ, weil sie mit ihren anderen drei Kindern flüchten musste.
Man möchte nicht weiterlesen, doch aufhören kann man noch weniger. Diese Stimmen haben etwas Bezwingendes: Die Hoffnung, von der im Klappentext die Rede ist, steckt einzig in diesen Frauen, in ihrem Humor, ihrer Verletzlichkeit, ihrer Kraft.

Von Öl korrumpiert, von der Moderne abgekoppelt

Im Wechsel mit Gesprächspassagen analysiert Wolfgang Bauer die Lage in Nigeria – und diese scheint hoffnungslos. Das mit 190 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Afrikas ist zerrissen zwischen dem christlich geprägten Süden, in dem das Öl eine bis in die Knochen korrupte Elite reich gemacht hat, und den rückständigen, muslimisch geprägten Norden, völlig abgekoppelt von der Moderne.
Strom gibt es kaum, Bildung ebenso wenig. Mit dem Versprechen, mittels der Scharia für Gerechtigkeit zu sorgen, hat Boko Haram bei Analphabeten leichtes Spiel. Ein Fünftel Nigerias hat die Sekte unter Kontrolle, eine Region im Nordosten, die bis ins 19. Jahrhundert dem Reich Kanem-Bornu unterstanden hatte. Auf dieses Reich geht der Stamm der Kanuri zurück, dem wiederum die Mehrheit der Anhänger von Boko Haram angehört.
Bauer vermutet, dass es auch um die Wiederherstellung früherer Machtverhältnisse geht. Der verheerende Siegeszug von Boko Haram offenbart die Schwäche aller anderen Akteure: Die politischen Parteien sind korrupt und lähmen sich gegenseitig, das Militär sowie die Bürgerwehren wiederum sind oft noch grausamer als die Sekte, die sie bekämpfen.
In der globalisierten Welt gebe es kein Außen mehr, deshalb werden diese Konflikte auch uns erreichen, warnt Wolfgang Bauer im Epilog. Der Wahnsinn von Boko Haram und die entführten Frauen sind Teil unserer Welt. Wer wissen will, in welcher Welt wir leben, kommt um die Lektüre dieses schmalen, erschütternden Buchs nicht herum.

Wolfgang Bauer: Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas
Mit Fotografien von Andy Spyra
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
189 Seiten, 19,95 Euro, auch als E-Book

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