Wolf Lepenies: "Die Macht am Mittelmeer"

Grande Nation leidet unter Machtlosigkeit

Französische Flagge vor einer Frauenstatue vor Nachthimmel
"Le Triomphe de la République" heißt diese Statue am Place de la Nation in Paris. © JOEL SAGET / AFP
Von Eike Gebhardt · 26.05.2016
Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy hat es versucht: Er wollte seine südlichen Nachbarn für eine Mittelmeerunion gewinnen - als Gegengewicht zur einer deutschen Dominanz in Europa. Angela Merkel wusste das zu verhindern. Für den Autoren Wolf Lepenies ist dies keine zeitgeschichtliche Fußnote.
Nicht einschlägig informierten Nordeuropäern wird der Buchtitel "Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa" von Wolf Lepenies unverständlich scheinen: Wunschdenken der in vieler Hinsicht abgehängten Mittelmeer-Anrainer, die gern Gemeinsamkeiten beschwören? Tatsächlich hat es in den letzten zwei Jahrhunderten – meist von französischen Autoren und Politikern – viele Versuche gegeben, eine gemeinsame mediterarrane Kultur zu formulieren. Sie alle scheiterten: Meist standen sich die unterschiedlichen Kulturen verständnislos, nicht selten sogar feindlich gegenüber, bedingt durch Religion und Kolonialgeschichte und schließlich durch das ökonomische Gefälle, das wiederum womöglich unverträglichen sozialen Idealen, ja Lebensformen und -modellen sich verdankt.
Jüngst hatte der französische Ex-Präsident Nicolas Sarkozy versucht, die mediterrane Idee wieder zu beleben, war aber an Merkels Widerstand gescheitert. Und noch 2013 spekulierte der italienische Philosoph Agamben, nur halb ironisch: "Wenn ein Lateinisches Imperium sich im Herzen Europas formen würde …"

Wie sieht eine einheitliche Mittelmeerkultur aus?

Wolf Lepenies, einst Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, bestens vertraut mit europäischer Ideengeschichte, begabt mit einem Sinn für die Skurrilitäten von Konflikten zwischen den Kulturen, hat die verschlungenen Pfade der Idee einer einheitlichen Mittelmeerkultur detailreich nachgezeichnet. Die einzelnen Kapitel sind im Grunde eigene Essays, was manche Redundanz erklären mag. Sie decken fast das ganze Themenspektrum vom Ideal einer Gemeinschaft lateinischer Länder, auch einer römisch katholischen, bis hin zu Hannah Arendts Vorschlag zur Neuordnung des Verhältnisses von Arabern und Juden ab.
Den Schwerpunkt freilich bilden die Versuche "lateinischer Koalitionsbildungen" (unter Einschluss Spaniens und Italiens, meist auch Portugals sowie der jeweiligen Kolonien), die unverkennbar, oft ausdrücklich als Gegengewicht zur Vormacht Deutschlands, später auch zur kulturellen Dominanz der angelsächsischen Länder konzipiert wurden. All diese Visionen sahen und sehen Frankreich als gleichsam natürliche Führungsmacht. Ausgerechnet de Gaulle, Apologet der Grande Nation, misstraute der Idee allerdings, weil er weitsichtig sah, dass ohne Deutschland kein Gegengewicht zu den USA oder der SU herzustellen war.

Napoleon hatte eine Mittelmeervision

Vorläufer dieser Mittelmeervisionen finden sich bereits bei den Saint-Simonisten und bei Napoleon. Und verfolgen lässt sich der angebliche Gegensatz zum Norden bis zu Montesquieu, der allen Ernstes glaubte, Mentalität und Lebensweise durch Klima und Geographie erklären zu können: mehr Mut, Selbstvertrauen und Freimut bei den Nordländern, aber kaum Lebensfreude; mehr Sinnenfreude bei den Südländern, denen kaum jedoch die Neugier fehle, denn Nichtstun sei für diese Menschen Ausdruck des Glücks. Noch in der Griechenlandkrise wurden diese Stereotypen wiederbelebt.
Die naheliegende Frage, ob die – in den meisten Gemeinschaftsvisionen beschworene – Nähe zu den Menschen und ihren Alltagsbelangen dem Rechtsruck in Europa hätte entgegenwirken können (faschistische Diktaturen gab es ja auch am Mittelmeer), wird allerdings von keinem der zitierten Autoren und Politiker thematisiert. Für eine spekulative Mentalitätsgeschichte wäre das ein spannender Aufhänger gewesen.

Wolf Lepenies: Die Macht am Mittelmeer.
Französische Träume von einem anderen Europa
Hanser Verlag, München 2016
349 Seiten, 24,90 Euro

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